Barbara Gowdy wurde 1950 in Ontario geboren. Zunächst arbeitete sie nach der High School in einem Maklerbüro, später studierte sie dann Theaterwissenschaften und Klavier. Bevor sie Schriftstellerin wurde, arbeitete sie als Lektorin und Literaturkritikerin. Ihr Debütroman „Fallende Engel“ wurde erfolgreich verfilmt. „Der weiße Knochen“ erschien bereits 1999, damals noch im Antje Kunstmann Verlag. In diesem Jahr wurde das Buch im Unionsverlag neu aufgelegt.
Als ich mir „Der weiße Knochen“ von Barbara Gowdy gekauft habe, habe ich etwas getan, was ich mittlerweile sonst eigentlich kaum noch tue: „Der weiße Knochen“ ist ein reiner Coverkauf gewesen. Zwischen all den anderen Taschenbüchern entdeckte ich dieses unscheinbare Buch mit dem Elefanten auf dem Buchcover. Ich musste an einen Artikel denken, den ich einige Tage zuvor gelesen hatte und der mich sehr berührt hat. An dem Buch konnte ich dann einfach nicht mehr vorbeigehen, ich habe es kaufen und lesen müssen. Ich möchte nicht verschweigen, dass mich ein Zitat von John Irving auf dem Buchrücken zusätzlich überzeugen konnte: „Ich war hingerissen. Ich kenne nichts Vergleichbares.“
Barbara Gowdy hat für ihren Roman „Der weiße Knochen“ eine ungewöhnliche Perspektive gewählt: sie erzählt den ganzen Roman vollständig aus der Perspektive der Elefanten. Sie erzählt die Geschichte der jungen Elefantenkuh Matsch, die jahrelang mit ihrer Adoptivfamilie durch die Sümpfe und Savanne gestreift ist. Mittlerweile wird dieses Gebiet jedoch zunehmend von einer Dürre bedroht, aber auch von den Machenschaften der Menschen – von den Elefanten nur „Hinterbeiner“ genannt -, die Jagd auf die Elefanten machen, besonders auf das Elfenbein der Elefanten. Die letzte Hoffnung der Elefanten ist ein magischer weißer Knochen, von dem, einer Legende gleich, beinahe in jeder Elefantenfamilie gesprochen wird. Dem weißen Knochen wird nachgesagt, dass er den Elefanten den Weg zu einem sicheren Ort zeigen könne. Matsch und ihre Familie machen sich auf die Suche danach.
Dem Buch vorangestellt ist ein Zitat aus der Achten Elegie der Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke: „Und doch ist in dem wachsam warmen Tier / Gewicht und Sorge einer großen Schwermut. / Denn ihm auch haftet immer an, was uns / oft überwältigt – die Erinnerung, / als sei schon einmal das, wonach man drängt, / näher gewesen, treuer und sein Anschluss / unendlich zärtlich.“ Ich empfinde das Zitat als sehr passend, wenn ich an die Beschreibungen der Elefanten in diesem Roman denke.
„Wenn sie lange genug leben, vergessen sie alles. Aber die meisten von ihnen leben nicht so lange. Neun von zehn werden in der Blüte ihres Lebens abgeschlachtet, Jahrzehnte bevor ihr Gedächtnis durchlässig wird. Ich spreche also von der Mehrheit, wenn ich sage, es stimmt, was Sie gehört haben: Sie vergessen nie.“
Das sind die ersten Sätze des Prologs, die mein Herz bereits mit einer bodenlosen Schwere füllen, mit Trauer angesichts dessen, was mit Elefanten geschieht. Im Prolog erfährt man darüber hinaus, dass Elefanten sentimental sind, „bis zu einem Grad, den wir weinerlich nennen würden„:
„Jede Art von Verlust oder Sehnsucht bricht ihnen das Herz.“
Dem Prolog folgen 16 Kapitel, die vollständig aus der Sicht der Elefanten erzählt werden. Im Mittelpunkt des Romans steht die Suche nach dem weißen Knochen, die von vielen Unwegsamkeiten und tragischen Zwischenfällen unterbrochen wird. Der Leser lernt Matsch kennen, die zu Beginn des Buches auf den Namen Sie-Schmollt getauft wird, Dattelbett, Langschatten, Sturm, Hagelkorn und Sumpf. Matsch ist Teil der Sie-Schs, einer Elefantenfamilie, die sie als Neugeborenes adoptierte, da ihre leibliche Mutter bei der Geburt verstarb. Elefanten der Sie-Schs haben alle entsprechende Namen, die ihre Charaktere spiegeln: Sie-Schützt, Sie-Schreit, Sie-Schaut, Sie-Schnaubt. Das Gebiet, in dem sie sich seit Jahrzehnten aufhalten, ist nicht nur von einer Dürre bedroht, sondern auch von den Hinterbeinern, die die Elefanten jagen und töten.
„Menschen gibt es seit dem Niedergang, der vor zehntausend Jahren stattfand, während der ersten langen Dürre, als zwei ausgehungerte Elefanten, ein Bulle und eine Kuh, eine Gazelle töteten und aßen und damit das höchste und heiligste Gesetz brachen: ‚Du sollst kein anderes Geschöpf essen, weder tot noch lebendig.‘ Noch ehe die beiden Ungehorsamen ihr Mahl beendet hatten, fingen sie an zu schrumpfen. Ihr Leibesumfang verringerte sich, ihre Rüssel wurden zu Stummeln, ihre Ohren zogen sich zusammen, und auf den Köpfen wuchs ihnen Fell. Sie erhoben sich auf die Hinterbeine und wollten protestieren, aber aus ihren kehlen drang nur ein klägliches Heulen. Wütend und trotzig erklärten sie sich zu Fleischessern, die Jagd auf alle Kreaturen machen durften, die nicht aufrecht gingen (wie sie es in ihrem unendlichen Zorn von nun an taten).“
Barbara Gowdy ist mit ihrem ungewöhnlichen Roman „Der weiße Knochen“ ein Stück zauberhafte Literatur gelungen. Ein Buch, in das ich mich sofort – Hals über Kopf – verliebt habe. Die Elefanten sind mir als Leser sehr nahe gekommen, weil sie von der Autorin mit vielen Eigenschaften ausgestattet wurden, die ich als sympathisch und nachvollziehbar empfunden. Ich weiß nicht, ob man schreiben kann, dass diese Eigenschaften menschlich sind, denn schließlich sind es ja die Menschen, die Jagd auf die Elefanten machen, ihnen die Stoßzähne entfernen und die Füße abschneiden. Stellenweise fiel es mir beim Lesen schwer zu akzeptieren, dass ich Teil dieser menschlichen Rasse bin. Der Verlust der Stoßzähne bedeutet für die Elefanten, dass ihnen der Zutritt in das Paradies verwehrt bleiben wird. Ans Herz gewachsen ist mir besonders die junge Elefantenkuh Matsch, die sich gehandicapt von einem steifen Bein durchs Leben schlagen muss.
„Matsch fängt an zu schluchzen. ‚Dattelbett‘, sagt sie, und der Klang dieses geliebten Namens ist wie ein Requiem für alles, was sie in ihrem Leben verloren hat: ihre leibliche Mutter, ihren Geburtsnamen, Dattelbett – und schließlich der kurze, traumartige Verlust ihrer selbst.“
Das Buch lebt von wunderschönen und gleichermaßen skurrilen Ideen. Lachen musste ich immer wieder über die Sprache der Elefanten, die nicht nur Menschen als Hinterbeiner bezeichnen, sondern auch Hubschrauber als Dröhnfliegen. Auch die Namensgebung in den einzelnen Elefantenfamilien (Sie-Schs, Sie-Bs, Sie-As, Sie-Ds) ist amüsant, auch wenn die Orientierung beim Lesen aufgrund der vielen ähnlichen Namen zunächst schwer fällt. Glücklicherweise gibt es auf den ersten Seiten einen umfangreichen Stammbaum der unterschiedlichen Familien.
Barbara Gowdy ist mit „Der weiße Knochen“ ein wunderschönes Buch gelungen. Ein Buch, das mich tief berührt hat. Ein Buch, voller liebenswerter und skurriler Charaktere. Ein Buch, das aber auch schonungslos aufzeigt, zu was für unfassbaren Taten Menschen fähig sein können. Wer ein Herz für Tiere hat, wird sich rettungslos in dieses Buch verlieben. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre!
Barbara Gowdy: Der weiße Knochen. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker und Claus Varrelmann. Unionsverlag 2013, 320 Seiten, 12,95 €.
Kommentar verfassen - Mit dem Absenden des Kommentars geben Sie gleichzeitig ihr Einverständnis zur Datenschutzerklärung auf dieser Seite