»Leiden Sie an Üblichkeit?«
2014 erschien Martin Lechners Debütroman Kleine Kassa im Residenz Verlag und schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Nun folgt ein Band mit Erzählungen, der den schönen Titel Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen trägt. »Erzählungen«, so steht es zumindest auf dem Einband, die gute alte short story darf man bei Lechner aber nicht erwarten. Einer der letzten Texte im Buch, »Ein alter Schuh ist auch ein alter Freund«, sollte eigentlich ganz vorne stehen, nimmt der Autor darin doch Stellung zu seiner Poetik: »Ich suche eine Art zu erzählen, die die Sinne entzündet. Die die Ohren öffnet. Für die Stimmen unterm Schuh, zum Beispiel. Leiden Sie an Üblichkeit?, flüstern sie, sobald ich meine Sohle hebe.« Und weiter:
Wer in der erzählten Welt orientiert zu sein verlangt wie in der wahrscheinlichen, statt sich zu, sagen wir, verlaufen, verlieren, verändern, kann auf seinen vier Buchstaben dumm sitzen bleiben. So lang, bis ihn seine Couch verschlingt. Mit einem Happs. Denn die wahrscheinliche ist immer auch die unwahrscheinlich rätselhafte, die unheimlich schmatzende, die wirr verwinkelte Welt.
Ja, wir verirren und verlieren uns in diesen Erzählungen, die selten mehr als eine oder zwei Seiten umfassen, manchmal sogar nur ein paar Zeilen. Die mal faszinierend und verblüffend sind, mal auf ermüdende Weise albern, mal ganz und gar kryptisch. Wikipedia weiß, dass Kurzgeschichten wie ein Eisberg funktionieren: »Die Aussage des Textes ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich und vieles muss vom Leser durch Lesen zwischen den Zeilen […] erschlossen werden.« Von Techniken der Verdichtung ist die Rede, von Doppelbödigkeit und Mehrdeutigkeit, von offenen Enden und Pointen. All das trifft auf Lechners Erzählungen zu, und doch ist man, führt man sich dieses Wissen zu Gemüte, kein bisschen vorbereitet auf das, was einen erwartet.
63 Texte versammelt der Band, sie heißen schlicht »Mainz«, »Der Schacht«, »Büro bei Nacht« und »Letzte Liebe« oder – etwas üppiger und verspielter – »Weitergehenundrehen«, »Betrachtung des zu Tode gekommenen Menschen in der Gaststätte Willy Bresch«, »Gefahr des lockigen Wegs«. Und auch wenn manche Titel das Gegenteil behaupten: Schlicht oder gewöhnlich ist hier gar nichts. In einem Text gibt ein See seine Sicht der Dinge zum Besten, ein anderer erzählt von einer Explosion, die dem Glück und Unglück dreier Liebender ein überraschendes Ende setzt, wieder ein anderer handelt vom »Verkrusteten« und geht so: »Der Verkrustete saß am Meer und ließ sich vom Wind, den er hasste, denn er hasste jeden noch so kleinen Windhauch, den Scheitel verwüsten.«
Und dann sind da Lechners Wortkaskaden, kaum ein Satz, der nicht ohne Einschub auskommt, schwallartig ergießen sie sich über ganze Seiten. Das kann anmutig klingen, wie etwa hier: »Es folgt die Geschichte eines Herrn, der, und zwar wie ein Fragezeichen, abends in den Zug einsteigt.« (Derselbe Herr springt übrigens am Schluss ins Freie und »irrt weinend über das Land«. Welch ein schönes Motiv!) Das kann freilich auch irritieren und, ja, gehörig nerven. In jedem Fall aber versetzt es einen immer wieder ins Staunen und Erstaunen: Lechner macht sich einen Spaß daraus, mit den Erwartungen des Lesers zu spielen, und nicht selten nehmen die Geschichten unvorhergesehene, mitunter gänzlich absurde Wendungen.
Am Haken
Wie ein mit tausend Seen blau betupftes, zum Töten verlockendes Land, oder wie ein auf einen Haken gespießter, im Wasser versinkender Wurm, oder wie ein Fisch, der den Haken mit einem ausgehungerten Happs verschluckt und plötzlich, ohne sich verabschieden zu können, von seinen Lieben, seinem Leben, in die Luft gerissen wird, oder wie der Angler, der, kaum dass der Fisch im Eimer zappelt, von einem schon seit Tagen auf der Lauer liegenden Tierfreund mit einer Angelschnur erwürgt und in den See geworfen wird, oder wie der Junge, der den toten Angler später, im Winter, nach einem Sturz beim Schlittschuhlaufen unter dem spiegelblank gefrorenen Eis entdeckt, oder wie der sich drei Tage später vor Angst am schwarzen alten Apfelbaum aufknüpfende Mörder des Anglers, so, oder so ähnlich, fühlte er sich heute Morgen, rasierte sich und trat zärtlich auf die Straße.
Im eingangs erwähnten Text heißt es, »jede Geschichte, die sich ganz oder gar nicht erhellt, im Lesen wie im Schreiben, wird leblos auf die Erde sinken«. Martin Lechner muss sich keine Sorgen machen: Keine seiner Erzählungen erhellt sich zur Gänze, immer bleibt ein Rätsel, ein Zweifel, und andererseits scheinen sich zwar manche Texte komplett dem Verständnis entziehen, doch noch während man ratlos mit den Schultern zuckt, erfreut man sich zumindest an einem Wortspiel, einem sinnlichen Bild, einem verrückten Einfall. Insofern: Wenn Sie an Üblichkeit leiden, dürfte dieses Buch genau die richtige Medizin für Sie sein. Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen ist maßlos und anmaßend, abwegig und unwegsam, witzig und irrwitzig – eben das Gegenteil von üblich.
Martin Lechner: Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen. Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2016, 192 Seiten, 19,90 €.
Die Rezension ist zuerst auf SchöneSeiten erschienen.