Einmal noch den Horizont sehen

Düstere Zeiten

Dieses Buch handelt von einer jungen Frau, die für einen Mord im Gefängnis sitzt und auf die Verkündung ihrer Strafe wartet. Da sich das alles im Iran nach der Islamischen Revolution abspielt sieht die Strafe nur eines vor – die Todesstrafe. Im Gefängnis erzählt uns diese Frau ihre Geschichte von Geburt an, wie sie in eine gesellschaftliche Gefangenschaft geboren wurde und aus einer realen heraus aus dem Leben entlassen wird. Diese Geschichte ist grausam, manchmal warmherzig und doch trostlos, voller Phantasie und durchzogen mit harter Realität. Lohn es sich trotzdem, dieses Buch zur Hand zu nehmen? Das sollen die nächsten Zeilen zeigen.

Aufmüpfiges, fantasievolles Kind

Sheyda sitzt im Gefängnis, weil sie einen Mord an ihrer Mutter begangen haben soll und erwartet in ihrer Zelle nur noch auf die Vollstreckung ihres Todesurteils. Die ersten Zeilen zeigen auf, dass sie längst mit dem Leben abgeschlossen hat und auch auf keine Hilfe von außen mehr hofft. Diese Zeit nutzt sie, um auf ihre Vergangenheit, ihr kurzes Leben zurückzublicken, dass sie laut eigener Aussage von Anfang an in Gefangenschaft verbracht hat und den Tod nun eher als Befreiung begreift. Sie hat es schon als Kind nicht leicht. Ihre Eltern, beide noch in Freiheit aufgewachsen und ohne religiöse Zwänge groß geworden, sind nicht mehr sie selbst und müssen sich nun neben den ganzen politischen und religiösen Zwängen auch noch mit ihrer Tochter auseindersetzen, die bis in ein Alter hinein ins Bett macht, aufmüpfig ist, für den eigenen Vorteil lügt, einen älteren im Rollstuhl sitzenden Mann anschmachtet, sich nicht an Regeln hält und mit einer überbordenden Fantasie Dinge erfindet. Als der Vater stirbt geraten die ohnehin brüchigen familiären Verhältnisse und Sheydas labile Psyche immer mehr ins Wanken, da mit seinem Tod eine Wahrheit ans Licht kommt, die keiner hat kommen sehen und die der Mutter und der Tochter den Boden unter den Füßen wegziehen wird.

Ein Land im Griff der Religion

Diesem Buch in einer kleinen Besprechung halbwegs gerecht zu werden ist schwierig, da es eigentlich so viele Inhalte bietet, die möglicherweise eine Rezension sprengen. Doch soll der Versuch an dieser Stelle einfach gestartet werden, die Inhalte und ihre Bedeutung halbwegs komprimiert in Worte zu fassen.
Das Buch beziehungsweise die Hauptfigur Sheyda macht es einem zu Beginn nicht einfach, denn als Leser*in sollen wir mit einer Mörderin sympathisieren. Zudem wirkt Sheyda auf den ersten Seiten sehr instabil und wechselhaft in ihrem Gemüt, ja fast zornig auf das ungerechte Leben, was sie gelebt hat. Doch man gewöhnt sich an diese Lesart spätestens im ersten Drittel vom Buch, bei dem man mehr oder minder unchronologisch durch Sheydas Leben geführt wird. All die essentiellen Stationen werden dabei erzählt und im Wechsel mit dem Gefängnisalltag beschrieben. Der Tod des Vaters, das Einnässen bis hinein ins Schulalter, die Sitzungen beim Psychiater, das Verliebtsein in den rollstuhlfahrenden Nachbarn, der um einiges älter ist als Sheyda und im Iran-Irak-Krieg verletzt wurde und ihre Erlebnisse, die eine überbordende Fantasie andeuten. Anhand dieser einzelnen Szenen eines (weiblichen) Lebens im Iran wird deutlich, wie schwierig das Leben in diesem Land war. Auf der anderen Seite wird es Sheyda auch von der Familie nicht einfach gemacht. Sie wird von ihren Eltern nicht akzeptiert, wird der Grund für ihre labile Psyche, für ihre Verhaltensweisen im Kopf gesucht. Sie wird zu einem Psychiater geschickt, der herausfinden soll, was mit ihr nicht stimmt. All das wird auf eine recht einfühlsame und ruhige Art erzählt, so wie man es von einem Menschen erwarten würde, der mit seinem Leben abgeschlossen hat und nun reinen Tisch machen möchte. Was dieses Buch so grausam macht, sind die Wechsel zwischen einer Kindheit, die trotz der Umstände behütet erscheint und dem brutalen Alltag im Gefängnis und dem zermürbenden Warten auf die Vollstreckung der Strafe. Aus diesem Alltag wächst bei Sheyda nur noch der Wunsch, dass sie nicht schnöde auf dem Gefängnisinnenhof erhängt, sondern vielmehr an einem Kran am  Strick baumelnd nach oben gezogen wird, damit sie in den letzten Atemzügen noch einmal den Horizont erblicken kann, den sie schon so lange nicht mehr erblickt hat. Doch wird sie diesen Wunsch bekommen?

Ein ernstes Buch mit ein paar Fakten des Lächelns

Das Buch ist definitiv kein Wohlfühlbuch, auch wenn einige Szenen zum Lächeln einladen. Ob sie wirklich geschehen sind oder der Fantasie von Sheydas wirrem (?) Geist entspringen bleibt im Dunkeln. Doch im Großteil ist es eher eine trübselige Angelegenheit, die auf uns einwirkt und garantiert niemanden kalt lassen wird. Diese Geschichte lässt anhand einer Familiengeschichte einen kleinen Blick in ein Land zu, das seit 1979 im Griff eines schiitischen Gottesstaates ist und die daraus resultierenden harten Regeln, die der Bevölkerung (Insbesondere den Frauen) auferlegt wurden, auch was die drastischen Strafen und ihre Vollstreckung angeht. Und doch ist es kein politisches Buch, vielmehr lässt es uns anhand der Geschichte von Sheyda an einem Familienleben teilhaben, dass vor dem Hintergrund des islamischen Gottesstaates Iran stattfindet.

Im düstern Wald werden unsere Leiber hängen
Ava Farmehri
Aus dem Englischen übersetzt von Sonja Finck
Edition Nautilus
288 Seiten
22 Euro

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