Wie ist es, wenn es einem unmöglich erscheint, Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen zu können? Wie, wenn man sich nur in seiner Wohnung verbarrikadiert und darauf wartet, dass der Tag vorbeigeht? Oder sich nicht ins Schlafzimmer traut, weil man sich sonst an die schönen Zeiten mit dem Ex-Freund erinnert? So ergeht es zumindest der Hauptfigur in Lucie Faulerovas Roman „Staubfänger“, der letztes Jahr im Homunculus Verlag erschienen ist, und den Marc für euch gelesen hat und diesen Trip in die Tiefen der Psyche einer verlorenen Frau näher vorstellt.
Selbstzerstörungstrip
Anna ist alleinstehend und ohne Freunde. Sie führt ein recht tristes Leben in ihrer kleinen Wohnung, schläft auf dem Sofa, traut sich nicht ins Schlafzimmer und hat eine Art „Schrein“, auf dem sie den unterschiedlichsten Nippes aufbewahrt und als Staubfänger stehen lässt. Das meiste davon irgendwo mitgehen lassen. Als einzige Kontaktperson hat Anna ihre Schwester, der aber auch mehr einer Pflichtübung gleichkommt, als wirklich herzlich zu sein. Ihrer beider Mutter ist für einen Mord für viele Jahre im Gefängnis und obwohl sie über Annas Schwester ausrichten lässt, dass diese sich über einen Besuch freuen würde, geht Anna nicht hin, blockiert bei diesem Thema regelrecht. Außerdem arbeitet sie in einem Callcenter für Anfragen aller möglichen Arten, was in den heutigen Zeiten schon skurril anmutet, in denen gefühlt jeder ein Smartphone besitzt und alles erdenkliche im Internet findet. Persönliche Kontakte nimmt sie eher schlecht auf, selbst One-Night-Stands gehen regelrecht in die Hose und arten mehr in eine Vergewaltigung aus.
Wir beobachten zusammen mit dem Erzähler, den Anna im Übrigen selbst auch anspricht, dass Anna auf einem absteigenden Ast ist, sie sich immer mehr vom Leben zurückzieht, gefühlt nur noch auf der Couch liegen möchte und gar nicht mehr rausgehen. Über ihre Schwester lernt sie durch Zufall den ehemaligen Therapeuten Viktor Kavi kennen, der sie nicht behandeln möchte, da er befangen ist, denn er hat ihre Mutter im Gefängnis betreut und aufgrund diesem Falls seinen Job nicht mehr ausführen können. Ausgerechnet an diesen Mann hängt sich Anna in einer Art selbstzerstörerischen Trip, der sie immer tiefer hinab zieht und fast in einem Selbstmord endet, der nur durch Viktor verhindert werden konnte. Doch was erhofft sie sich über Viktor herauszufinden? Welche Vergangenheit schlummert in Anna, die sie zu dem hat werden lassen, die sie nun ist, und was weiß Viktor darüber? Hat es etwa mit ihrem Vater zu tun, der sie in ihrer Kindheit durch absolute Missachtung für immer gestraft hat, sozusagen auf seelische Art misshandelte?
Kuriose Herangehensweise
Dieses Buch gleicht einem Überraschungsei. Zum einen ist die Thematik keine einfache und die Handlung zieht einen unweigerlich mit in das tiefe Loch, in das sich Anna immer weiter hinein manövriert. Es ist unvermeidlich, man sieht ihr dabei zu, steht irgendwie kopfschüttelnd daneben und kann nicht in diesen selbstzerstörerischen Trip eingreifen. Dazu kommt noch ein Erzähler, der alles, was Anna angeht und sie immer weiter hinabzieht höhnisch an uns Leser*innen kommentiert. Sozusagen die vierte Wand durchbricht. Und es wird noch kurioser, denn Anna kommuniziert ebenfalls mit diesem Erzähler, ganz so als wäre er in ihrem Kopf präsent und sie wäre sich der Sache bewusst, dass sie erzählt wird. So entsteht eine gefühlt direkte Verbindung mit der Hauptfigur, was die Fallhöhe, wie man mit Anna mitfühlt, um einiges größer werden lässt. Allein das ist dieses Buch schon wert, es zu lesen.
Doch es ist auch der Punkt, wie Anna die Welt beobachtet, erzwungenermaßen aus ihrer Vergangenheit begründet. Denn vieles kommentiert sie zynisch und bissig und trifft dabei doch immer den Kern der Sache. Auch als sie endlich den Therapeuten über Umwege kennenlernt, der sie eigentlich gar nicht behandeln will und den sie durch ihr Verhalten dazu regelrecht zwingt, an ihr eine Analyse durchzuführen, wird es mit Anna vorerst nicht besser. Im Gegenteil, der Abwärtsstrudel, in den sie psychisch gerät, wird immer größer und stärker, und dieser Abwärtssog wird auch so durch den Text transportiert. Man kann nicht einschreiten, nur zuschauen und mit der Hauptfigur mitleiden.
Doch die große Frage, warum Anna so geworden ist, wird als das große Thema nach und nach entschlüsselt, denn die Verhaltensmuster von Anna, indem sie alle vertrauten Personen von sich abweist (Schwester, Mutter) und mit niemanden anders eine normale Beziehung eingehen kann beziehungsweise diese in die Brüche gehen (Nebenplot mit dem Ex- Freund), liegen wie bei vielen Menschen in der Vergangenheit begründet und das baut die Autorin Lucie Faulerova fantastisch, fast wie einen Krimi auf und zeigt uns erst zum Schluss, was die Vergangenheit für dunkle Geheimnisse verbirgt. Eines kann man hier schon andeuten, ohne zu viel zu verraten: Das Cover zeigt euch, worin der Knackpunkt besteht. Doch selbst mit diesem Hinweis werdet ihr den Mund vor Staunen offen stehen lassen, denn ihr werdet trotzdem nicht darauf kommen, was Anna zu dem hat werden lassen, was sie geworden ist.
Grausame Thematik
Vor allem ein Thema steht dem Haupterzählstrang noch beiseite und das ist die Misshandlung in der Kindheit, die sowohl Anna als auch ihre Schwester und ihre Mutter treffen. Doch allen dreien wird das auf unterschiedliche Weise zuteil. Diese Abschnitte werden nur angedeutet, meist durch Gedankenfetzen oder Träume, die wir durch Anna und den Erzähler mitbekommen. Das macht das Buch neben all dem Zynismus und dem psychischen Terror sehr unbequem und zu keiner einfachen Lektüre, soviel sollte man vorher wissen. Es ist somit keine leichte Unterhaltung zu erwarten, vielmehr sehen wir ein Psychogram einer mehrfach verletzten Frau, die sich nur durch die gezeigten Verhaltensmuster zu helfen weiß und sich damit immer mehr ins Abseits stellt, obwohl sie doch eigentlich das Gegenteil will. Ob ihr am Ende von Viktor geholfen werden kann und sie sich von ihrer Vergangeheit lösen wird? Oder wir die Wahrheit sie endgültig hinabziehen in den endlosen Strudel aus Einsamkeit, Zynismus und Selbstvorwürfen? Das ist eine Auflösung, die ihr euch selber erarbeiten müsst, aber eines ist gewiss. Es lohnt sich, in die Tiefen der menschlichen Psyche hinabzusteigen!
Lucie Faulervorá
Staubfänger
Aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck
Homunculus Verlag
223 Seiten
22 Euro
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