Die Frauen der Familie Jaschi
Zu diesem Buch gibt es auf diesem Blog schon eine Besprechung. (Siehe hier: klick) Diese erschien zu der Zeit, als das Buch ganz frisch heraus gekommen war und es einige erboste Stimmen darüber gab, dass dieses Werk nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Aus dem Moment heraus ist so etwas immer schwierig zu beurteilen, aber in der Entfernung schon oder wer kann mir sofort und ohne das Internet zu bemühen das damalige Siegerbuch geschweige denn die 6 nominierten Shortlisttitel nennen? Aber das soll hier nur ein kleiner Seitenblick sein, denn dieses Buch ist monumental, sentimental, brutal und einfach phänomenal oder kurz, es ist Weltliteratur mit dem Zeug auch noch in zehn oder zwanzig Jahren gelesen zu werden, was sich ganz sicher jetzt schon absehen lässt, was man von der damaligen Shortlist zum Deutschen Buchpreis ganz sicher nicht behaupten kann (und nun Schluss mit den Seitenhieben). Eine Ehre, die nicht vielen Büchern zuteil wird. Mit „Das achte Leben“ hat sich die Autorin Nino Haratischwili selbst übertroffen und in den Autor*innenolymp katapultiert. Hatte sie schon vorher zwei richtig gute Bücher veröffentlicht, so ist ihr mit ihrem dritten Werk das ultimative Momentum gelungen. Unser Autor Marc hat sich dem Buch nun acht Jahre nach seiner Veröffentlichung endlich ebenfalls genähert und diesen umfangreichen Roman innerhalb von zwei Monaten ganz in Ruhe ausgelesen. Er kann sich nur einreihen in die lange Liste derer, die dieses Buch lieben und für immer in ihr Herz geschlossen haben. Da dieses Buch auf diesem Blog schon eine Besprechung erfahren hat, wird es eher eine Art Bestandsaufnahme, ob dieses Buch wirklich das Zeug zum Klassiker hat und was es zu so etwas besonderem werden lässt. Dadurch wird dieser Artikel auch ein wenig persönlicher angefärbt sein, als ihr es eigentlich von den hier erscheinenden Besprechungen gewohnt seid.
Ein Jahrhundert der Gewalt (und die Spirale dreht sich schon wieder)
Als ich begann, dieses Buch zu lesen (Anfang Februar), war der Angriff Russlands auf die Ukraine noch nicht aktuell, drohte aber schon am Horizont Wahrheit zu werden. Jedoch „belastete“ es das erste Drittel der Lektüre nicht und ich konnte mich mehr auf das inhaltliche Geschehen konzentrieren als es auf das aktuelle Tagesgeschehen zu interpretieren. Doch das sollte sich während der Lektüre noch ändern und zwar so gewaltig, dass es mir in der zweiten Hälfte des Buches regelmäßig die Kehle zuschnürte und den Boden unter den Füßen wegzog, wie aktuell dieses Buch an manchen Stellen auf einmal wirkte. Doch auch in der ersten Hälfte sind Szenen in diesem Buch enthalten, die einen öfter die Luft aus den Lungen geblasen haben. Dabei fängt das Buch so optimistisch an, so fröhlich und lebensbejahend, dass einem auf den ersten 50 Seiten richtig warm ums Herz wird. Die Geburt von Anastasia Jaschi, kurz Stasia, die als Figur das Leben der Familie Jaschi durch das komplette Jahrhundert begleitet, wirkt wie ein Sonnenschein zu Beginn. Auch die ersten Jahre ihrer Kindheit wirken unbelastet und mag kaum vermuten lassen, dass die Geschichte die Familie Jaschi mit aller Brutalität treffen wird. Doch erste Schatten tauchen bereits am Horizont auf und werden alsbald zu richtig dunklen Wolken und das Schicksal der Familie Jaschi wird durch die Irrungen und Wirrungen der Zeitläufte von nun an geprägt sein.
Dieses Buch ist von vorne bis hinten gelebte Geschichte aus georgischer Sicht mit immensen Einfluss aus Russland, was dieses Buch so hochaktuell macht. Die ersten bereits erwähnten dunklen Wolken sind die Revolution in Russland 1917, die Stasia hautnah miterlebt, dann die Regierungszeit Stalins (der hier sogar mitwirkt, ohne direkt genannt zu werden), der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg, die Wende. All das wird mit dem Leben der Familie Jaschi verwoben und in einen Teppich der Geschichte eingebunden, ein Bild, das auch im Buch ganz zu Beginn verwendet wird und zu dieser Geschichte so gut passt. Doch denkt man an das 20.Jahrhundert, so ist dieser Teppich mit Blut getränkt und es geht auch nicht an der Familie Jaschi vorbei und das hat mich diese Lektüre so in die Länge ziehen lassen. Ich musste diese Abschnitte erst einmal verdauen. Was die Frauen der Familie, auf die sich größtenteils die Erzählung bezieht, alles durchmachen müssen, nur um dann trotzdem nicht das Ziel ihrer Träume erreicht zu haben. Alle Frauen erfahren Leid, Missgunst, Gewalt und vieles mehr und versuchen trotz allem, ihr Leben weiterzuleben beziehungsweise zu überleben. Das jedoch gelingt allen nur zu einem richtig hohen Preis, indem sie ihre Träume und Wünsche allesamt aufgeben müssen. Ein Schicksal, das der aktuell letzten in der Ahnenreihe nicht geschehen soll. Und so ist dieses Buch „für Brilka“ eine Art Warnung und Zeitzeugnis, um einen Neuanfang zu wagen, die Geschichte der Familie neu zu schreiben, was das leere Blatt des achten Buches am Ende symbolisieren soll. Davor wurden sieben Generationen von Frauen von Gewalt geprägt, was der titelgebenden Brilka nicht geschehen soll, der dieses ganze Buch gewidmet ist.
1200 Seite pure Geschichte mit erschreckender Aktualität
Doch ist das überhaupt möglich? Schaut man sich die aktuellen Ereignisse an, die sich seit März in der Ukraine zutragen und auch schon die Jahre davor, so erscheint es mehr als fraglich, ob ein friedliches Leben für einen Menschen wie zum Beispiel Brilka wirklich möglich ist. Es ist zwar nur der Ausschnitt aus einer Familie, die vom Schicksal und der Geschichte gebeutelt wurde und es kann natürlich sein, dass es mit Brilka nun aufhört, was man ihr nach der Lektüre natürlich mit aller Macht wünscht. Doch realistisch und global betrachtet scheint das nicht möglich zu sein. Doch die Hoffnung für Brilka ist nach dem Ende der Lektüre auf jeden Fall gegeben.
Doch auch die Geschehnisse in dem Buch, die speziell die Beziehungen zwischen Georgien und Russland betreffen und die durch die Geschichte des 20.Jahrhunderts und ihre Persönlichkeiten beeinflusst wurde, zeigen erschreckende Parallelen zum aktuellen Tagesgeschehen auf. Und das hat mir vor allem ab März regelmäßig zu schaffen gemacht, dieses wunderbare Buch weiterzulesen, da es immer wieder so hoffnungslos erscheint, so düster und voller unerfüllter Wünsche, dass es allein beim Lesen schmerzte und beim Zusammenhänge sehen so richtig in ein tiefes Loch gezogen hat. Es mag zwar „nur“ Literatur sein, aber dieses Buch ist so wirkmächtig, dass es alles sehr real wirkte. Was Nino Haratischwili hier geschaffen hat ist ein großer Roman mit einer Mixtur aus geschichtlichem Wissen, auf einer Ebenes eines Sachbuches dargeboten, und lebensechten romanhaften Zügen, die in ihrer Summe beim Lesen auf mich eingeprasselt sind wie ein kalter Wasserfall. Daher musste ich dieses Buch so in die Länge ziehen. Es ist definitiv kein Genussbuch, auch wenn darin öfter eine Schokolade weggelöffelt wird, die einen kurzzeitig Wärme in die dunkelsten Ecken des Herzens brachte. Diesen Roman muss man in kleinen Schlucken lesen und versuchen zu erarbeiten. Von genießen möchte ich an dieser Stelle wirklich nicht sprechen und das macht großartige Literatur ja aus. Sie muss wehtun und einen herausfordern, was dieses großartige Buch definitiv macht. Es ist eine ganz große Oper, die das europäische 20.Jahrhundert und dessen großen geschichtlichen Ankerpunkte, die diese 100 Jahre ausgemacht haben, aus georgischer Sicht perfekt austariert in einen Roman gegossen hat, der lange im Gedächtnis bleiben wird und nach einer wiederholten Lektüre verlangt. Es ist definitiv ein Buch, das bleiben wird und die nächsten Jahre bis Jahrzehnte bestehen bleibt. Das zeigen die Leselisten jedes Jahr aufs Neue, bei denen nachgefragt wird, welche Bücher unbedingt in den kommenden Monaten gelesen werden wollen.
Ich persönlich habe mich lange davor gedrückt, dieses Buch zu lesen, da mich die überschwänglich und sehr positiv dargebotene Resonanz mehr als abgeschreckt hatte. Einen ersten Anlauf, den ich vor vier Jahren unternommen hatte, um dieses Buch endlich aus seinem tristen Dasein im Buchschrank zu befreien, ist kläglich gescheitert und ich kam nicht über die ersten 100 Seiten hinweg. Mich hat die Art, wie dieses Buch ausgearbeitet war, zu diesem Zeitpunkt erschlagen und ich bekam es auch nicht in Einklang mit den bisher gesehenen Kritiken auf Blogs oder aus dem Feuilleton. Doch nun hat es gepasst und geklappt, ich habe die Hürde genommen, es nicht bereut und sogar erneut ein Lebenslesehighlight für mich gefunden. Ein Buch, das bei mir im Regal seinen Platz finden und ganz sicher nie mehr ausziehen wird.
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