Die Suche nach Identität

Mit 153 Formen des Nichtseins ist Slata Roschal ein Debüt gelungen, dass formal gegenüber vielen Romanen heraussticht und damit sogar die Jury überzeugen konnte, die in diesem Jahr über den Deutschen Buchpreis zum besten deutschsprachigen Roman entscheidet. Somit ist die Autorin mit diesem Buch, der in dem immer empfehlenswerten Homunculus Verlag erschienen ist, auf der Longlist gesetzt gewesen. Für den nächsten Schritt hat es in den Augen der Jury leider nicht gereicht. Uns konnte Slata allerdings größtenteils überzeugen, denn dieses Buch, dass in 153 Kapiteln in verschiedensten Textformen darstellt, wie die Akteurin Ksenia, eine Einwanderin russischer Eltern, die durch das Judentum geprägt sind und gleichzeitig bei den Zeugen Jehovas ihre Überzeugungen vertreten, versucht, ihre eigene Identität zu finden und täglich daran scheitert und trotzdem weiter macht, um sich von der Vergangenheit zu befreien und die Gegenwart endlich zuzulassen. Ein experimenteller Roman, der in der Vergangenheit und aktuellen Zeit versucht zu ergründen, was die Person Ksenia im Grunde ausmacht.

153 Mal Suche nach dem eigenen Selbst

Ksenia liest ihre Umgebung, nimmt sie wahr, beobachtet und schreibt dies auf, um sich selbst zu finden, ihr eigenes Ich, ihre Identität, die sie ausmacht.  Sie ist eine russische Immigrantin, kam mit ihren Eltern unter erschwerten Umständen Anfang der 90er Jahre nach Deutschland (ist hier was biographisches der Autorin eingegangen?), als sie selbst noch ein Kind war. Ihre Eltern sind gläubige Juden und leben ihre Überzeugungen bei den Zeugen Jehovas in einer russisch geprägten Gruppe aus. Dem Leben eines Zeugen ist auch Ksenia unterworfen, womit sie eine strenge und auch freudlose Kindheit und Jugend verbringt. In Deutschland selbst fühlt sie sich deswegen fremd und nicht angenommen. Zum einen kommt sie aufgrund des Lebens bei den Zeugen nicht oft unter Menschen beziehungsweise hat nur Kontakte innerhalb dieses engen Zirkels der Gruppe, die zumeist aus russischen Immigranten zusammengesetzt scheint. Aus diesen Gründen hat sie keine Freunde in der Schule, mit denen sie spielen oder etwas unternehmen könnte, was den Überzeugungen der Zeugen Jehovas einer verschwendeten Lebenszeit entspricht. Je älter sie wird, desto mehr (ver)zweifelt sie an diesem System, das ständig nur die Gruppe im Blick hat, aber nie das Individuum, und entschließt sich auszusteigen, sobald es für sie möglich ist. Als Ksenia der Ausstieg gelingt, geht an die Universität, studiert, verliebt sich, bekommt ein Kind und alles, was zum Leben dazu gehört. Und obwohl sie sich endlich aus dem System der Zeugen und dem alten Leben befreit hat, fühlt sie sich immer noch nichtig, weder angenommen noch angekommen. Ein Leben im Nichtsein, auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.

Nicht richtig greifbar und doch sehr intensiv

Slata Roschal hat mit „153 Formen des Nichtseins“ einen experimentellen „Roman“ geschrieben, der die titelgebenden 153 Mal versucht in verschiedenen Miniaturen zu beschreiben, wer die Hauptfigur eigentlich ist. Es sind mal kurze Alltagssequenzen, ein oder zwei Seiten, die etwas mehr in die Tiefe gehen und viele Themen anschneiden, die Ksenia betreffen, auch sind es allgemeine Beobachtungen ihrer Umgebungen, die meist nur einen Absatz umfassen. Ebenso Blogeinträge aus russischen Foren kommen vor, Einträge aus einem Leitfaden der Zeugen Jehovas (oder ihrer Bibel) und sogar Einkaufszettel werden eingefügt. Sie zeigt damit Situationen unterschiedlichster Art, sei es die Mutterschaft, das Leben als Kind in einer Sekte, die Immigration nach Deutschland, dass sich Fremd fühlen in Deutschland aufgrund ihrer Herkunft und dem Leben in der Sekte und vieles andere mehr. Das alles könnte für diesen kurzen Roman, der eher eine zeitlich willkürliche Aneinanderreihung von kleinen Kapiteln darstellt als eine zusammenhängende Erzählung, ziemlich schnell überfrachtet wirken und somit aus dem Ruder laufen. Das dem nicht so ist, liegt zuvorderst daran, dass diese anfangs zusammenhanglos wirkenden Texte letztenendlich über das gesamte Buch doch einen roten Faden ergeben und im Gesamtbild eine Frau zeigen, die versucht trotz aller Umstände ihren Weg zu gehen.
„153 Formen des Nichtseins“ ist wahrlich kein Wohlfühlbuch oder gar einfach zu lesen. Vielmehr ist es stellenweise irritierend, auch schwer dem Inhalt ganz zu folgen. Es erfolgen Zeitsprünge von der Kindheit ins Jetzt und zurück irgendwo dazwischen. Dazu machen es einem die verschiedenen Textformen das Lesen ebenfalls nicht einfacher, da sich ihr Sinn erst viel später oder vielleicht sogar erst nach dem Lesen erschließt. Und doch sieht man nach den ersten Kapiteln den roten Faden, dem dieses Buch folgt und lässt sich auf dieses Experiment ein. Kaleidoskopartig werden die Erzählungen vor den Leser*innen ausgebreitet. Ein Roman, der eigentlich keiner ist und mit seiner Art, wie er geschrieben und ausformuliert ist, zum Nachdenken anregt über das Sein, das Nichtsein und wie sich eine Identität eigentlich bildet beziehungsweise, was es braucht, damit das verhindert bleibt. So wie es eben Ksenia ergeht, die in keiner Kultur so richtig zu Hause ist und somit auch als Erwachsene, als Mutter und Schriftstellerin, Schwierigkeiten hat, sich selbst zu finden. Ein starkes Debüt, das verdient für den Deutschen Buchpreis nominiert war und dem wir viele weitere LeserInnen wünschen.

Slata Roschal
153 Formen des Nichtseins
Homunculus Verlag
176 Seiten
22 Euro

 

 

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