
Wie in den letzten Jahren, gab es auch für den Deutschen Buchpreis 2022 ein von Bloggern begleitetes Lesen, das unter dem Hashtag #buchpreisbloggen vornehmlich in den sozialen Medien verbreitet wird. Dabei stellen Instagramer*innen, Blogger*innen und auch Youtuber*innen jeweils ein ihnen zugelostes Werk vor, ihr sogenanntes Patenbuch. Jedes Jahr wird diese Runde aus 20 Menschen immer wieder neu zusammengestellt und es entstehen immer wieder neue Blickwinkel. In diesem Jahr waren auch wir als Blogkollektiv das erste Mal in dieser Runde dabei. Das Losglück meinte es erst nicht gut mit uns und wir bekamen kein Indiebuch zugelost. Doch zum Glück konnten wir im Hintergrund eines der drei Indiebücher ertauschen, die es auf die Longlist geschafft haben, und so war unser Patenbuch „Freudenberg“ von Carl-Christian Elze aus dem Verlag Edition Azur, einen Imprint von Voland&Quist, welches wir euch heute etwas näher vorstellen möchten. Dazu haben wir uns etwas besonders ausgedacht, da wir es nicht in einer einfachen Besprechung bringen wollten. Da wir ja einige sind, die euch hier versuchen die unabhängigen Verlage näher zu bringen, dachten wir uns, dass es ganz schön wäre, diesen Roman anhand einer Art Leseprotokoll näher zu bringen. Folgt uns also in den folgenden Text und seid gespannt, wie insgesamt drei von uns dieses Buch aufgenommen haben.
Dazu muss noch eine Randbemerkung zu dem Punkt gemacht werden, der die Wertung unseres Patenbuches betrifft, ob dieses Buch seinen Platz auf der Longlist verdient hatte oder nicht. Diese Passagen sind so im Text verblieben, da sie den jeweiligen Zustand des Lesens und der Meinung widerspiegeln sollen. Allerdings ist es so, das mit ein bisschen Abstand zur Lektüre und mit Sichtung ein Paar der anderen Werke der Longlist klar geworden ist, unter welchem Thema einige der Bücher fallen, die in diesem Jahr nominiert worden. Da geht es in einigen der Texte um die Findung der Identität und da ist Freudenberg ganz klar ebenfalls zu verorten. Ob die Qualität des Textes trotzdem ausreichend ist, sollen die nun folgenden Meiningen drei unserer Autor*innen aufzeigen.
Seit Verkündung der Longlist bis vor ein paar Tagen haben das Buch haben für euch gelesen:
- Kathrin
- Marc
- Katharina (sie hat es leider nur bis zu einem Drittel geschafft)
Für eine nähere Vorstellung der Personen schaut einfach bei dem Link Das neue Team vorbei (klick).
Verschrobene Coming of Age – Geschichte
Kathrin: Erwartungen vorher – Leipziger Autor mit Debütroman (davor Lyrik), studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Leipzig soll ja mittlerweile das coolere Berlin sein? Bei DLL-Absolventen (Anm.d Red : DLL – Deutsches Literaturinstitut Leipzig) habe ich (unfairerweise) höhere Erwartungen oder bin skeptischer. Edition AZUR ist ein Imprint von Volandt und Quist, was mich wiederum sehr freudig erwartungsvoll macht. Beim Text bin ich gespannt: Außenseiter, Coming-of-Age, fragile Männlichkeit?
Kathrin: Also die Ausgangsstory erinnerte mich an die amerikanischen Autorinnen, aber noch mehr an die Autoren, die ich in den Nuller Jahren gelesen habe: Diese Coming-of-Age-Stories mit Aussenseiterjungs, die leicht verschroben sind. Freudenberg tauscht die Identität mit einem toten Jungen und kommt zu seiner eigenen Beerdigung wieder nach Hause. Aber die Sprache und Atmosphäre sind eine ganz andere. Ich habe Anlauf für das Buch gebraucht und ich bin bei der einen oder anderen Handlung, wie Marc (siehe unten), nicht immer überzeugt. Elze verwendet sehr viele Metaphern und Symbolismen, um Freudenbergs Gefühle auszudrücken. Das Mädchen Maja, ist das ein Kopfnicken an ein anderes wildes Mädchen, die auf einer Müllhalde zwei Vierzehnjährige trifft? Oder ist das eine steile These? :o) (Ich versuche gerade noch voller Hoffnung etwas zu finden).
Marc: Die ersten zwei Kapitel gelesen und ich frage mich bisher: „Was hat dieses Buch auf der Longlist zu suchen?“. Auch wenn das Buch Freudenberg heißt, möchte ich nicht in jedem zweiten Satz diesen Namen lesen. Dann ist die Konstellation mit Gerd, dem vermeintlichen Vater, Freudenbergs Mutter und ihm selbst für mich bisher sehr uninteressant bis hin zu Desinteresse. Einzig der Urlaub in Polen triggert mich ein wenig an, da ich vor ein paar Jahren selber an einem Küstenort Urlaub gemacht habe und genau diese Stimmung vorfand. Bisher bin ich wenig begeistert,der Einstieg hat mich bis auf die Szenerie nicht gepackt und der titelgebende Hauptcharakter bleibt mir sehr fremd.
Ein Vorantasten
Marc: Bis Kapitel 6 vorgetastet. Es wird besser. Die Geschichte nimmt nun eine Wandlung, die so nicht vorhersehbar war (ich lese das Buch ohne vorherige Kenntnis des Klappentextes oder etwaiger Rezensionen) und die eine interessante Konstellation birgt. Allerdings finde ich die Situation, in die Freudenberg gerät, sehr arg konstruiert, und warum er sich für den Tausch mit seinem Doppelgänger entscheidet bleibt vorerst sein Geheimnis. Oder habe ich etwas verpasst? Es wirkte für mich irgendwie erzwungen. Ich bin gespannt, wie sich die Geschichte weiterentwickelt.
Marc: Habe es fast bis zum Ende geschafft, nur der Schlaf hatte mich von den letzten ca 20 Seiten abgehalten. Nachdem das Buch ein paar Tage ruhte, konnte ich mich dem Geschehen ab Kapitel 10 wieder widmen und was für ein surreale Tour das war. Sehr verwirrend und faszinierend. Ich bin sehr gespannt, wie der Autor das auflöst und was es mit diesem Marek, mit Maja und überhaupt der ganzen Situation zu tun hat. Ist es ein Traum? Eine Halluzination? Fantasiert sich Freudenberg da einfach was zusammen? Es wirkt alles immer zusammenhangsloser und die Realitätsebenen verrutschen immer mehr ineinander. Außerdem wirkt Freudenberg, erst totgelaubt, dann wieder auferstanden, so lustlos, er wandelt ohne Antrieb durch sein Leben, ohne so recht zu wissen, wohin die Zukunft ihn treiben wird.
Kathrin: Bin noch etwas weiter weg vom Ende, aber ja, die Realität verschiebt sich immer mehr. Ich bin auch gespannt auf die Auflösung. Ich hoffe auf einen genialen Turn, der das bisher Gelesene eine tiefere Bedeutung gibt.

Orientierungslosigkeit und morbide Assoziationen
Marc: Ende erreicht und einige Fragezeichen im Kopf, aber auch ein befriedigender Schluss mit Erklärung, was am Anfang desRolans wirklich passiert ist, wird geboten. Die Erzählung wird im weiteren Verlauf immer schwammiger und verwirrender, hat am Ende Konsequenzen für Freudenberg, aber anders als gedacht. Letztenendes geht es um einen 17-jährigen Jungen, der absolut desorientiert durchs Leben stolpert und eine absurde Situation nutzt, um von zu Hause abzuhauen, nur um dann wieder bei seinen Eltern angekrochen zu kommen, ausgerechnet am Tage seiner Beerdigung. Klingt alles absurd und trotzdem, dass der Text seine Wende hinbekommt und vor allem in der Mitte starke Passagen bietet, finde ich immer noch, dass das kein Buch für die Longlist war und ich trotz bescheidener Lektüreliste in diesem Jahr einige bessere, geeigneter Romane gelesen habe, die den Platz auf der Longlist auch verdient gehabt hätten. Schade! Trotzdem freut es mich, dass mit der Edition Azur ein kleiner Verlag so zu Aufmerksamkeit gelangt und natürlich sende ich ebenfalls Glückwünsche an den Autor für den Platz auf der Longlist.
Katharina: Mein Mann hat den Klappentext gelesen und gesagt, dass er sich an “Mein Name sei Gantenbein” erinnert fühlt. Und da ist was dran, in dem Sinne, dass es dort ebenfalls um die Frage nach der eigenen Identität geht und jeder seine eigene Geschichte erfinden muss. Überhaupt ist allein schon das Konzept “Name” recht präsent in “Freudenberg”: Freudenberg dürfte sicherlich der Nachname des Protagonisten sein, ob irgendwann ein Vorname bekannt wird, weiß ich noch nicht, da ich erst ein Drittel gelesen habe. Der Vater wird wiederum nur beim Vornamen (Gerd) genannt. Die Mutter bleibt (bisher) namenlos. Der Vorname Maja ist im Polnischen eine Kurzform für Maria. Ob das von Bedeutung ist? Kann dazu aktuell noch nicht mehr sagen, da Maja im Roman gerade erst aufgetaucht ist.
Was mir sonst noch aufgefallen ist: Freudenberg hat zu fast allem, was er wahrnimmt, Assoziationen, die wiederum grundsätzlich etwas Morbides haben. Ein paar Beispiele: rote Kissen wie Fleischstücke (S. 12), schlauchartige Gewächse, die an Darmschlingen erinnerten (S. 12), rötlich-grauer Teppichboden, auf dem es sich läuft wie auf Gehacktem (S. 13), Liegestühle, Tische und Sonnenschirme aus schmutzigem, weißem Plastik, angehäuft wie halb verrottete Walknochen (S. 15), Geschmack von Schrottplatz oder Gemetzel (S. 20), Neubauten, an denen alles infektiös wirkt (S. 24) etc. Man findet fast auf jeder Seite Vergleiche dieser Art! Finde ich spannend, weil es viel über Freudenberg bzw. seinen Blick auf die Welt aussagt.
Mein bisheriger Leseeindruck: Mich hat der Roman von Anfang an sehr angesprochen; da war direkt so ein Gefühl von drohendem Unheil und natürlich die Frage, wie sich die Situation am Ende auflöst. Bei der Frage, ob der Roman mit Berechtigung auf der Longlist gelandet ist, enthalte ich mich. Finde ich in diesem speziellen Fall sehr schwierig zu beantworten.
Ach, und um was geht es nun genau?
Noch kurz zum Inhalt, damit ihr nicht komplett auf dem Schlauch steht, um was es geht:
Der 17-jährige Freudenberg verbringt mit seinen Eltern einen letzten Urlaub an der polnischen Ostsee. Er hat gerade seinen Schulabschluss hinter sich, ist sich noch nicht sicher, was er mal machen möchte und sein Vater Gerd liegt ihm schon in den Ohren, erstmal einen ordentlichen Beruf zu lernen, am besten bei sich in der Arbeit, denn da kann er seine Beziehungen gleich spielen lassen. Dieser Urlaub soll noch einmal Entspannung bringen, bevor der Ernst des Lebens losgeht. Freudenberg lässt sich nach der Ankunft durch den Ort treiben und endet an einem einsamen Strand. Dort entdeckt er eine Leiche von einem Jungen, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Anscheinend ohne groß zu überlegen, tauscht er die Klamotten mit diesem toten Jungen, versteckt sich und lässt seine Eltern glauben, er sei tot.
Wochen später taucht er zu Hause wieder auf, ausgerechnet am Tag seiner eigenen Beerdigung. Was hat er in der Zwischenzeit getan? Was hat ihn überhaupt dazu angetrieben, diesen Schwindel zu begehen? Und welche Konsequenzen erwarten Freudenberg? Auf all das bietet Carl-Christian Elze eine Antwort in diesem teils sehr surrealen Roman, aber anders als es eingangs zu erwarten gewesen wäre.
Carl-Christian Elze
Freudenberg
Edition Azur
176 Seiten
20 Euro