Julia Friese: MTTR
von Marc (Lesen macht glücklich)
CW: Übergriffige Situation unterschiedlicher Ausprägung während Schwangerschaft und nach der Geburt
Julia Friese hat mit MTTR einen Roman vorgelegt, der ein Thema anspricht, das immer aktuell ist und nimmt dieses bis auf den kleinsten Baustein auseinander. Es geht um das Thema Mutter werden und die darin verwobenen Dinge wie Schwangerschaft, Geburt und Erwartungen an eine Frau, die Mutter wird beziehungsweise geworden ist. Ein Buch, stellenweise wie ein Offenbarungseid oder auch ein Schlag in die Magengrube, je nach Sichtweise. MTTR bezieht sich dabei auf eine Abkürzung, die ausgeschrieben Mean Time To Repair bedeutet und übersetzt die mittlere Zeit meint, bis etwas oder jemand wieder hergestellt ist. Doch ist das im Falle einer Mutter in der heutigen Gesellschaft überhaupt möglich? Diese Antwort lässt die Autorin zum Glück aus, denn diese gibt es nicht. Vielmehr kann man den Titel MTTR auch als das interpretieren, was er hauptsächlich darstellt – die Mutter, nur ohne Vokale dargestellt. Jedenfalls schwebt dieses Wort – Mutter – die ganze Zeit wie ein Damoklesschwert über der Hauptfigur, auch über der Geschichte und bedroht anscheinend die Geschicke der Person als Mensch, denn hinter dem Wort verbirgt sich eigentlich eine ganze Apparatur, die Persönlichkeit als solche hinten anstellt und vielmehr biologische und gesellschaftliche Prozesse in den Vordergrund rücken, die das überlagern. Und genau das stellt Julia Friese in diesem Roman dar, indem sie aus der Sicht von Teresa eine ganze Schwangerschaft, die Geburt und die ersten Monate mit Kind durchdekliniert, mit allem, was dazu gehört, den schönen und auch den unschönen Situationen, die alle voller Liebe, Glück und Übergriffigkeiten stecken, dass einem warm und bange zugleich wird und all denen, die selber in den zurückliegenden Jahren Kinder bekommen haben, dass Messer in der Tasche aufgehen lässt.
Druck von allen Seiten
Mit Teresa wird uns in MTTR eine Frau vorgestellt, die zaghaft ihren Platz in der Welt sucht. Sie ist Ende Zwanzig, selbstständig, arbeitet in einer Art Co-Working Büro ihre Aufträge ab und ist mit ihrem Freund … glücklich zusammen. Probleme mit ihren Eltern oder den Schwiegereltern laufen eher so nebenbei. Sie hat einen normalen Freundeskreis und auch
sonst scheint alles in Ordnung zu sein. Doch dann wird Teresa schwanger und alles ändert sich von heute auf morgen. Oder? Zuerst sitzt da der Schock über dieses ungeplante, noch ungeborene Leben in ihr drin. Auf die völlige Überforderung folgt der Entschluss abzutreiben, was sie im letzten Moment, eigentlich schon in der Abtreibungsklinik, sein lässt. Sie hat sich für das Kind entschieden und möchte es zusammen mit ihrem Freund wissen. Es warten Monate der Veränderung auf sie, Vorfreude auf das Baby steht im ständigen Wechsel mit Pflichten, Aufgabe und Erledigungen, die noch unbedingt vor der Geburt anstehen. Dazu muss sich noch um einen Platz im Geburtsvorbereitungskurs gebucht werden, die Hebamme will ausgesucht sein, wie man entbinden will und vieles mehr. All das prasselt auf Teresa innerhalb weniger Monate ein. Zusätzlich sind dann noch die übergriffigen Eltern und Schwiegereltern, die alles, was sie tun, unter dem Deckmantel des „Ich mein es ja nur gut mit dir“ machen.
Übergriffige Situationen überall
Alle, die Kinder haben, werden durch diesen Roman mehr oder minder getriggert. Es wird für jeden mindestens eine Situation dabei sein, bei dem ihr oder ihm das Messer in der Tasche aufgeht. Die Autorin hat die Situationen, die während einer Schwangerschaft so auftreten können unter das Mikroskop gelegt und messerscharf seziert. Dieses Werk ist ein abschreckendes Mahnmal, überhaupt Kinder zu bekommen und wird all jene darin bestärken, keine in die Welt zu setzen. Und das liegt noch nicht einmal an den Kindern selbst, sondern an dem gesamten Umfeld in dem Schwangerschaft, Geburt und das Leben mit Kind geschieht. Zumindest wirkt das in Deutschland so. Und all das liegt vor allem an all den übergriffigen Situationen, die meist auf werdende Mütter warten. Wie wäre es mit dem Streicheln über den Schwangerschaftsbauch, am besten ungefragt? Check! Oder mit dem Zusammenfalten durch eine Freundin, weil noch keine Hebamme besorgt wurde? Check! Hatten wir schon übergriffige Eltern/Schwiegereltern? Check! Übergriffiges Krankenhauspersonal? Check! Und so würde sich diese Liste unendlich fortführen lassen. Jede Situation, die in diesem Buch beschrieben wird, kann man sich so in der Wirklichkeit vorstellen und es wird ganz sicher tagtäglich in Deutschland passieren (psst, kleines Geheimnis, falls jemand meint, das wäre alles übertrieben dargestellt: Aus eigener Erfahrung mit mindestens drei der Szenen aus dem Buch kann gesagt werden, dass es bei weitem nicht übertrieben ist).
Um all das zu transportieren wählt Julia Friese eine sehr atemlose Sprache und Schriftform, die fast ohne Schnickschnack daherkommt und daher auch anfangs etwas schwierig zu lesen ist. Es gibt keine wörtliche Rede, die durch Anführungszeichen vom Rest des Textes abgetrennt wird. Auch Satzzeichen abseits von einem Punkt sucht man vergeblich und so ist der Text auf das Wesentliche reduziert, den Inhalt. Diese Art, die Geschichte zu erzählen wird nicht allen gefallen und sicher zu Verstimmung beim Lesen führen. Doch lässt man sich auf die Sprache ein, prasseln einem ungefiltert und mit aller Macht die Eindrücke entgegen, die Teresa während der Schwangerschaft durchlebt und alle Leser*innen, die selber innerhalb der letzten zehn Jahre Kinder bekommen haben, bekommen von einem nicht enden wollenden Nicken ganz sicher Nackenschmerzen.
Julia Friese MTTR
Wallstein Verlag
421 Seiten, 25 Euro
P.S.: Hier muss noch eine persönliche Anmerkung des Autors von diesem Artikel mit hinein, der sich bisher immer gefragt hat, wozu Triggerwarnungen eigentlich gut sind. Als die Szene kam, in der Teresas Eltern die frischgebackenen Eltern im Krankenhaus besuchen und es heißt, mit dem Kind nach Hause zu fahren und sich die Eltern von Teresa ungefragt in diesen nie wiederkehrenden Moment des zu Hause Ankommens zusammen mit dem Baby einmischen, habe ich mich sofort an die eigene Situation erinnert, die fast 1:1 genauso bei uns abgelaufen ist. Es hat uns so unendlich viel genommen und dieser Trigger war sofort präsent und mir lief es eiskalt den Rücken runter, weil ich sofort wieder in diesem Moment drin war, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte. Daher: Triggerwarnungen sind vollkommen in Ordnung und sollten viel öfter gesetzt werden. Daher habe ich das am Anfang des Artikels auch gemacht, was sich nicht unbedingt auf die Besprechung, sondern auf das Buch bezieht.