Erlangen Noir. Heute und Morgen.

von Marc (Lesen macht glücklich)

Es war glaube ich 2021, als in einer der regionalen Zeitungen in der Metropolregion Nürnberg, Erlangen, Fürth diverse Artikel erschienen, die mit der Überschrift „Erlangen Noir“ versehen waren und einige Kapitel und Geschichten der Stadt Erlangen zum Thema hatten. Diese zehnteilige Reihe hatte damals nicht meine volle Aufmerksamkeit, aber ich hatte mit Interesse verfolgt, was da gedruckt wurde. Als einer der zwei Autoren war Philip Krömer zuständig, einer der ehemaligen Verleger und Mitbegründer des Homunculus Verlags, der mir mit seinem Debütroman „Ymir“ nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist. Der zweite Autor dieses Bandes ist Björn Bischoff, der als freier Journalist unter anderem für Zeit Online oder die lokalen Nürnberger Nachrichten schreibt.
Nun wurden diese zehn Geschichten neu überarbeitet und ergänzt durch zwei zusätzliche Geschichten im Homunculus Verlag unter dem Titel „Erlangen Noir“ veröffentlicht. In einem feinen, großformatigen Klappenbroschur werden die 12 sehr unterschiedlichen Stories versammelt, die allesamt einen kurzen Blick auf das Erlangener Stadtgeschehen der jüngeren Vergangenheit werfen und daraus ein Bild entstehen lassen, wie Erlangen war, ist und vielleicht auch sein wird. Dafür sind die zwei Autoren tief in die Keller der Archive gegangen und haben nach Material gesucht, was sie dann für ihr Projekt literarisch verwerten konnten. Herausgekommen sind 12 sehr unterschiedliche Zeitläufte, die allesamt ein wahres Ereignis als Grundlage aufweisen, was dann durch Philip und Björn mal mehr, mal weniger mit eigenen Gedanken und Weiterführungen unterlegt wird.

Spannende Stadtgeschichte(n)

Dieses schmale Büchlein von etwas mehr als 100 Seiten versammelt insgesamt zwölf Bilder, die alle eine Geschichte zu erzählen haben und die von dem Autorenteam abwechselnd mit Leben gefüllt werden. Da geht es zum Beispiel um eine Abstimmung in den 1960er Jahren, bei der über eine Hochbahn abgestimmt werden soll, deren Streckenführung mitten durch Erlangen angedacht ist und den Verkehr in dieser Stadt revolutionieren soll. Diese Abstimmung muss recht knapp gegen dieses Projekt ausgefallen sein und in dieser Geschichte wird daraus ein recht apokalyptisches Was-Wäre-Wenn Zukunftsszenario gesponnen.
Oder die Geschichte zu einem Bild von amerikanischer Soldaten, die in der Nähe von Erlangen stationiert waren und bei der Begebenheit verknüpft wird, in der es um Zechprellerei bei einer Taxifahrt ging und eine anschließende Treibjagd von Nürnbergs Taxifahrer auf zwei Soldaten, die fast zum Tod von einem der Soldaten geführt hätte.
Oder die Geschichte von einer aufstrebenden Erlanger Rockband, die fast den Durchbruch geschafft hätte, wäre da nicht ein windiger Manager gewesen, der ihnen eine Asientour versprach, sie aber letztendlich nur nach Vietnam verfrachtete, während der Krieg dort von grausigem Höhepunkt zu grausigem Höhepunkt eilte und die Band zur Belustigung der dort stationierten alliierten Soldaten auftrat. Geld sahen sie keines, aber dafür beamen sie jede Menge Erfahrungen.
Oder die Geschichte von einem Ehepaar, das sich durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl einen provisorischen Bunker unterhalb der Erlangener Keller errichtet und in der ganzen Zeit denkt, in der Welt außerhalb wäre die Apokalypse ausgebrochen.
Oder die Geschichte von einem Mann, der in der Zeit als das Kino in den Kinderschuhen steckte, beinahe einen Kinosaal eröffnete, aber nur durch spät beglaubigte Anträge daran gehindert wurde.
Oder die Geschichte zu dem Bild eines steinerne Tores, dass in den letzten Tagen des Krieges von einem Panzer umgefahren wurde.
Oder…. Natürlich noch einiges mehr.

 Ein interessantes Experiment, als eine Art Fortführung für einige Städte denkbar

Wer kennt es noch von früher aus seiner Kindheit? Verbunden mit der Heimat in der man aufgewachsen ist, gibt es für jede Stadt oder größere Gemeinde in der Gegend Legenden, die es bis in die heutige Zeit geschafft haben und als Geschichten weitererzählt werden. Auch aus der Heimatstadt des Rezensenten sind solche Überlieferungen bekannt. Das haben Philip Krömer und Björn Bischoff in die moderne Zeit übertragen und anhand von Fotos, die sie in den Archiven Erlangens ausgekramt haben, ihre eigenen, literarischen Legenden aus diesen Bildern gesponnen. Teils recht wahrheitsgetreu (nimmt man an), teils doch sehr überhöht dargestellt. Doch allen gemeinsam ist, dass sie Erlangener Stadtgeschichte in all ihren Facetten und Zeitebenen des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, widerspiegeln. Daraus entsteht ein sehr interessantes, buntes Kaleidoskop an Begebenheiten, deren Bilder wahrheitsgetreu sind, aber die Geschichten dazu größtenteils fiktiv. Allen 12 Geschichten merkt man zwar an, dass sie für eine Tageszeitung als eigenständige Artikel einer Serie geschrieben wurden, allerdings passen sie sich alle gut in dieses Format der Klappenbroschur ein. Man kann alle 12 in einem Rutsch lesen oder auch häppchenweise, jedoch alle mit Genuss. Man merkt dem Buch an, wie viel Mühe vor allem die Recherche gekostet haben muss. Wie viel Staub die Autoren von Kisten und Ordnern pusten mussten, um sich an die längst vergangenen Ereignisse durch abgelichtete Zeitzeugen erinnern zu können. Daraus haben sie ein spannendes Experiment kondensiert, bei dem es durchaus vorstellbar ist, dass in den Archiven der Stadt Erlangen noch viel mehr solcher Geschichten warten. Und warum nicht das ganze weiterspinnen oder auf andere Städte übertragen, um daraus eine Art Deutschlandserie zu machen? Wäre es nicht vorstellbar, dass diese Art der fiktiv aufgearbeiteten Stadtgeschichte ihre Runde machen könnte und in anderen Städten (Nürnberg wäre naheliegend, aber auch Leipzig, Magdeburg, Trier, Mainz oder Stuttgart sind sehr geeignete Städte) ihre Fortsetzung findet? Ob sich dafür Autorinnen und Autoren finden, die eine Reihe mit „Noir“ im Titel fortführen? Das ist doch eine schöne Überlegung. Nach diesem Buch über die Stadtgeschichte von Erlangen kann dieser Gedanke gerne aufgenommen werden und würde ganz sicher seine Leserschaft finden. 

Björn Bischoff und Philip Krömer
Erlangen Noir

Homunculus Verlag
120 Seiten
22 Euro

Ergänzende Gedanken und Links

Danke an Elsa Laudan für den Kommentar mit den Anmerkungen, die in den kommenden Zeilen eingeflossen sind.

Seit der Veröffentlichung des Artikels gab es einen Kommentar und auch in den sozialen Netzwerken Anmerkungen, die darauf verwiesen haben, dass die Idee, die hinter „Erlangen Noir“ steckt, um einiges älter ist und seinen Ursprung sogar in einem Verlag in Amerika hat. Allerdings sollte da unterschieden werden in der Art, wie diese Bücher aufgebaut sind. Also bringen wir von We read Indie ein klein wenig Licht ins Dunkel und geben euch ein paar Links am Ende von diesem ergänzenden Abschnitt in die Hand, damit ihr auch da weiter schauen könnt.
Die Grundidee für das Buch „Erlangen Noir“ wurde für Philip Krömer und Björn Bischoff durch ein Buch gegeben, dass im Matthes&Seitz Verlag 2016 erschienen ist. Das von Frank Witzel und Philipp Felsch geschriebene Buch „BRD Noir“ beschäftigt sich mit der Vergangenheit der BRD und nehmen das sich immer mehr um sich greifende idealisierte Bild einer bunten, lieben Vergangenheit auseinander und zeigen auf, wie gewaltvoll auch die Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg waren.
Dem entgegen steht eine Reihe an Noir- Büchern, die ihren Ursprung in Amerika haben. Der Verlag Akashic Books hat in seinem Katalog einige Bände an Noir- Büchern aufgelistet, die nicht nur Städte in den USA zum Inhalt haben, sondern auf die ganze Welt zeigen. Der Ursprung oder die Grundidee des Ganzen lässt sich auf der Seite des Verlags leider nicht nachvollziehen, daher nehmen wir einfach an, dass es diese Reihe schon eine ganze Weile gibt.
Diese Idee hat der Verlag Culturbooks aufgegriffen und hat mit Berlin Noir, USA Noir und Paris Noir entweder Übersetzungen von den Geschichten aus dem Akashic Verlag oder eigenständige Bände herausgebracht. In diesem Frühjahr, genauer am 15. Mai 2023 erscheint mit „Hamburg Noir“ der nächste Band in dieser bisher dreiteiligen Reihe.
Wie ihr seht, ist die Noir- Idee schon um einiges älter als im Beitrag oben angedeutet und der letzte Absatz, in dem dahingehend geschwärmt wird, weitere Städte mit dem Titel „… Noir“ zu versehen. Allerdings möchten wir dahingehend unterscheiden, was Frank Witzel, Philipp Felsch, Philip Krömer und Björn Bischoff gemacht haben und was in den Noir- Reihen des Akashic Verlags und bei Culturbooks steht. Erstere nehmen sich echte Geschichten der Vergangenheit vor, wühlten in den Archiven und machten aus den vorgegebenem Material ihre eigenen Geschichten, die aber alle einen wahren Ursprung haben. Manche werden überhöht dargestellt, andere wiederum wirken sehr echt und authentisch. Bei den Noir- Reihen aus den zwei genannten Verlagen handelt es sich hingegen um Anthologien, bei denen verschiedene Autor*innen Krimis zu den jeweiligen Städten und den dazugehörigen Stadtteilen schreiben. Somit sind das zwei verschiedene, aber beides sehr spannende Ansätze, um eine Stadt zu erkunden. Und somit kann der letzte Absatz aus der Besprechung zu „Erlangen Noir“ gerne bestehen bleiben: Bitte mehr von diesen Büchern, bei denen die Archive der Städte nach der Vergangenheit durchforstet werden und die darin schlummernden Geschichten literarisch aufgearbeitet werden.

Weiterführende Links:

3 Kommentare zu „Erlangen Noir. Heute und Morgen.

Gib deinen ab

  1. Kleine Anmerkung: Eigentlich ist die Idee mit der Noir-Reihe ja von dem tollen unabhängigen US-Verlag Akashic Books: https://www.akashicbooks.com/subject/noir-series/.
    Und der Hamburger Indie-Verlag CulturBooks hat das schon vor über 5 Jahren hierzulande aufgegriffen und sowohl in Kooperation mit Akashic deren Bände zu übersetzen begonnen (http://www.culturbooks.de/portfolio/aurelien-massons-paris-noir-storys/), als auch eigene Bände zu hiersigen Städten auf die Beine gestellt: http://www.culturbooks.de/portfolio/hamburg-noir-storys/.

    Gefällt 1 Person

    1. Hallo Else,

      danke für deine Anmerkungen und Ergänzungen, die in diesem schnelllebigen Markt so wahnsinnig rapide untergehen. Ich werde die Anmerkungen noch in dem Text mit aufnehmen.

      Auch die Autoren von Erlangen Noir haben ihre Idee wiederum von Frank Witzel und Philipp Felsch, die das Buch „BRD Noir“ 2016 bei Matthes&Seitz veröffentlicht haben. Ich gebe auch ehrlich zu, dass ich im Zuge der Lektüre und auch im Nachgang beim Schreiben von diesem Text nicht tiefer recherchiert habe.

      Viele Grüße
      Marc

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    2. Hallo Elsa,

      noch ein zweiter Kommentar als Anmerkung meinerseits, als ich die von dir gesetzten Verlinkungen durchgesehen habe.
      Die Bände, die sowohl von akashicbooks und culturbooks veröffentlicht wurden, sind wohl mehr literarischer Natur. Also Krimis, die einen jeweiligen Bezug zu den Städten haben.
      Das ist bei Erlangen Noir ein wenig anders gelagert, da die beiden Autoren aus Archivmaterial und echten Geschichten, die in und um Erlangen stattgefunden haben, ihre eigenen Gedanken drum herum gebaut haben. Somit sehe ich zwar den Ansatz des Gedankens „…Noir“ in allen Büchern als gleich an, allerdings mit unterschiedlichen Ausführungen.

      Viele Grüße
      Marc

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