Wer dieses Buch aufschlägt, ohne vorher zu wissen, um was es grob geht beziehungsweise wer hinter diesem Buch steht, wird es von vornherein anders rezipieren, als es in den folgenden Zeilen geschehen wird. Dieses mit Roman völlig unzureichend eingeordnete Buch hat vor wenigen Wochen den Buchpreis zur Leipziger Buchmesse erhalten (siehe Link am Ende des Textes) und wir im Team sagen an dieser Stelle auch nochmal herzlichen Glückwunsch an den Autor und auch dem Verlag Mikrotext für diesen Gewinn, der so viel mehr ist als nur die Auszeichnung eines Buches. Die Konkurrenz war stark und es ist auch bei uns eine große Freude ausgebrochen, als dieser Titel genannt wurde. Doch wird das Buch auch dem Preis gerecht? Ist es wirklich so gut, wie es diese Auszeichnung suggeriert? Und was hat der Autor mit diesem Buch an uns Leser*innen herantragen wollen?

Was will dieses Land von uns?
Die Familiengeschichte vom Dinçer aus dem Buch, dessen biografischen Anteile sicher großen Raum einnehmen, beginnt weit vor Dinçers Geburt mit der Stimme von Dinçers Großmutter Hanife und dem Tod von ihrem Mann und den daraus folgenden Entwicklungen aus denen heraus Fatma hervorgeht, Dinçers Mutter. Infolge dessen wird diese Stimme immer lauter und erzählt ihren Anteil der Familiengeschicke. Sie wird mit Yilmaz verheiratet und geht mit ihm nach Deutschland, damit sie die zurückbleibende Familie in der Türkei versorgen können. Eigentlich ist es so, dass Yilmaz das Geld nach Hause bringen soll, während sich Fatma um den Haushalt und die zukünftigen Kinder kümmert. Doch er ist ein Nichtsnutz und Träumer, der mehr in nichtsbringenden Geschäften beziehungsweise einer Wirtschaft verwickelt ist, als der geplante Haupternährer der Familie zu sein. Und so entwickelt es sich, dass Fatma die Versorgerin der Familie wird und nicht nur einen Job übernimmt, um die Familie über Wasser zu halten. Sie erzählt dabei mit ihrer Stimme, wie ihr dieses Leben in einem fremden Land immer wieder zusetzt und ihre Träume dabei immer kleiner werden.
Als ihr erster Sohn Dinçer geboren wird, setzt sie alles daran, dass dieser Sohn der Mann wird, den sich Fatma eigentlich mit Yilmaz an ihrer Seite gewünscht hätte. Doch das Leben und Dinçer haben andere Pläne und fügen sich nicht in dieses Vorhaben. Eine weitere Stimme erwächst in der Familie, eine literarische, feinfühlige, lyrische Stimme, die all die Familiengeschicke auf seine Weise beobachtet und zu Papier bringt, so auch dieses Buch. Es entsteht immer mehr ein Dialog zwischen Mutter und Sohn, der die unterschiedlichsten Aspekte dieser Familie beleuchtet. Seien es innere Reibereien, die Dinçers Werdegang und allgemein der ständige Mangel an Geld beinhaltet, oder die äußeren Faktoren wie Fremdenhass, der sich ab den 1990ern in Deutschland immer mehr Bahn schlägt und der Familie zusetzt. Erst werden sie als Arbeitskräfte gebraucht und dann sollen sie, die den Laden namens Deutschland am Laufen gehalten beziehungsweise sogar zum Wachsen gebracht haben, die die Drecksarbeiten erledigt haben, einfach verschwinden und dahin zurück kehren, wo sie hergekommen sind, auch wenn diese Heimat für diese Menschen nicht mehr existiert. Sie werden mit einer bis dahin nie gesehenen Brutalität konfrontiert und sehen Plakate, die genau diese Vertreibung aus Deutschland beinhalten.
Letztendes kann sich vor allem Dinçer aus diesem Kreislauf befreien und mit verschiedenen Förderern und Freunden seinen Werdegang einschlagen, den er sich immer vorgestellt hat, auch wenn dieser ebenfalls mit Mühe, Fleiß, Schweiß und Angst um das tägliche Brot verbunden ist. Es wird und ist immer noch ein entbehrungsreicher Weg, der ihn immer wieder fordert, vor schwierige Entscheidungen stellt und doch zeigt sich, dass seine Liebe zur Literatur, zur Lyrik ihn immer darin bestärkt, weiter zu machen. Damit legt Dinçer mehr deutsche Tugenden an den Tag als es viele Deutsche in ihrem Leben je schaffen und er schultert diese Aufgaben mit Fleiß, Hingabe und einem Mentor. So ging er seinen Weg und wird ihn immer weiter gehen.
Viele erlebten ihre Rückkehr nur noch im Sarg, viele sind verweht, ohne Zweige, ohne Wurzeln, sie tragen ihre verschwiegenen Geschichten mit sich. Ich sag es immer wieder, zwischen Himmel und Erde haben sich hier Millionen Geschichten aufgestapelt. Du versuchst jetzt, einen Bruchteil davon aufzuschreiben, schön. Wir haben uns das nie getraut, wir sahen Offenheit als Schwäche. Ihr, deine Generation, wird vielleicht all das Aufgestapelte hemmungslos lüften, in die Welt streuen. Glaub mir, auch wenn ich es spät begriffen habe, was dein Schreiben bedeutet, es füllt in mir eine Leere, bitte, schreib weiter, auch das hier, das alles musst du aufschreiben.
Kapitel „Der Dorn im Auge“ / Fatma, Seite 124/125, Unser Deutschlandmärchen

Ein Märchen, mit Schweiß, Tränen und Angst errungen
Wieviel vom Autor nun wirklich in der Figur des Buches steckt oder wieviel von seiner Mutter in der fiktiven, das weiß nur der Autor selbst. Aber egal wie viel wahr ist und was fiktiv ist, dieses Buch ist eine wahre Fundgrube an Material an dem man sich abarbeiten kann. Es geht um die Gastarbeiter, die in den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, um den Wohlstand mit aufzubauen, den die Deutschen dann erleben durften. Sie haben die Arbeiten erledigt, für die sich der Deutsche zu fein war und es wurde dankend angenommen. Anhand der Familie Güçyeter beleuchtet Dinçer auch seine eigene Vergangenheit, die von Mangel von so ziemlich allem geprägt war. Doch die Geschichte der Familie an sich ist noch nicht alles, was dieses Buch ausmacht und es zu einem wirklich preiswürdigen Roman werden lässt. Es ist vielmehr die Sprache des Autors, die in so vielen Facetten das Leben einer türkischen Gastfamilie beleuchtet, die ihre Bürden zu tragen hat und trotzdem ihr Lächeln und ihre Zuversicht nicht verliert. So entstehen Textpassagen, über die man sogar schmunzeln kann, auch wenn den beteiligten Personen in der betreffenden Situation sicher nicht zum Lachen zumute war und keine zwei Seiten später schreibt Dinçer Passagen in dieses Buch, bei denen einen die Gefühle wahrhaft übermannen ob der traurigen Geschichte, die unser Land diesen Menschen aufgeprägt hat. Diese Angst, die ausgestanden werden musste, ohne zu wissen, ob einen der Fremdenhass als nächstes trifft oder ob man diese Zeit unbeschadet übersteht. So vermengt der Autor in diesem Buch lyrisches mit Prosa, wobei die lyrische Ader, die in dem Autor seit jeher schlummert, in allen Textteilen durchscheinen. Dazu muss man eben wissen, dass Dinçer mit dem Elif Verlag selbst etwas gegründet hat, dass für Lyrik steht, wie selten ein Verlag im deutschsprachigen Raum und genau die Leidenschaft für diese Textform scheint in diesem Buch voll durch.
Es gibt zu diesem Buch noch so viel mehr zu schreiben, aber an dieser Stelle soll die Begeisterung einfach auf die einfachen Worte heruntergebrochen werden: Lest dieses Buch! Bevor es andere tun. Es ist garantiert ein Werk, dass haften bleiben wird, in vielerlei Hinsicht. Und es ist ein Buch, dass es auf jeden Fall lohnt, mehrfach gelesen zu werden.
Bitte, glaubt nicht, dass wir keine schönen Träume hatten, ja, die hatten wir. Es waren schöne Träume … Sagt, was ihr wollt, aber bitte, aber bitte nicht mit herablassenden Blicken. Macht ihr es besser, schöner.
Kapitel „Epilog“ / Fatma, Seite 211, Unser Deutschlandmärchen
Dinçer Güçyeter
Unser Deutschlandmärchen
Mikrotext
216 Seiten
25 Euro
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