Eine Liebeserklärung

Abertausende Bücher werden jedes Jahr veröffentlicht. Alle sechs Monate, im Frühjahr und im Herbst, verschicken die Verlage ihre Programmkataloge mit Dutzenden Neuerscheinungen, ich bin fleißig und gehe sie allesamt durch, tagelang, zunächst noch freudig aufgeregt, dann schon bald ermattet. Ich notiere mir den einen oder anderen Titel, aber ehe ich sie kaufe und schließlich auch lese, vergehen Monate, gar Jahre, ich warte auf die richtige Stimmung oder auf die Meinung der anderen, und vieles erledigt sich mit der Zeit von selbst. Nur bei einem Verlag ist das anders: Liebeskind. Kaum sind die Bücher da, landen sie auf meinem Nachttisch, in meiner Hand, in meinem Kopf; um sie führt kein Weg herum.

Die Bücher der kommenden Herbstsaison sind schon in den Startlöchern, da haben mich die aktuellen noch fest im Griff, zumindest gedanklich und emotional, denn gelesen habe ich sie schon längst. Und genau das ist es, was die Liebeskind-Literatur vermag: Es ist eine Literatur, die dich packt und gehörig durchrüttelt, die oftmals wehtut, manchmal auch verstört und die deshalb nicht wirkungslos verpufft, sondern lange nachhallt. Eines der besten Beispiele dafür ist in diesem Frühjahr erschienen: Dieser Volkszähler des Engländers China Miéville. Er selbst ist es, der für seine Werke die Bezeichnung »weird fiction« gefunden hat, und merkwürdig ist sein jüngster Roman im wortwörtlichen Sinne: Es lohnt, sich diesen Autor zu merken.

Dieser Volkszähler löse eine wunderschöne Ratlosigkeit beim Leser aus, so drückte es kürzlich Saša Stanišić beim Kritikergespräch »Schöne Aussichten« im Frankfurter Literaturhaus aus. Und er hat recht, es ist eine ebenso frustrierende wie faszinierende Lektüre. Am Ende bin ich weit davon entfernt, die Geschichte wirklich durchdrungen zu haben, zu viele Rätsel gibt sie mir auf; was jedoch bleibt, sind die unzähligen Bilder, die sich im Kopf verfestigen, schaurige und gleichzeitig unheimlich poetische Bilder. Von dem Jungen, der, in einer postapokalyptisch anmutenden Szenerie, vom Berg hinab ins Dorf läuft und von einem Mord im Elternhaus berichtet; vom Felsspalt, in dem Tier- und vielleicht auch Menschenkadaver verschwinden; von den Schlüsseln, die der Vater für die Dorfbewohner anfertigt und die wundersamerweise Wünsche aller Art erfüllen sollen.

Miéville erzählt diese Geschichte eines möglichen Mordes in einer kriegsversehrten Welt mit wenigen, dafür aber umso wirkungsvolleren Worten, und das Ungesagte hat mindestens genauso viel Gewicht wie das, was ausgesprochen wird. Es ist ein knapper und dabei ungeheuer dichter Roman – so wie etliche andere Bücher des Verlages auch. Meine Reise durch das Programm von Liebeskind begann vor einigen Jahren mit Daniel Woodrell, der mit Werken wie Tomatenrot, Der Tod von Sweet Mister und Winters Knochen das Genre des Country Noir begründete. Auf kaum mehr als zweihundert Seiten entfalten sie eine beachtliche Wucht, am Ende kommt man reichlich lädiert aus der Lektüre heraus. Und auch James Sallis ist ein Meister des reduzierten Erzählens, jedes Wort in Driver ein Schnitt ins Fleisch des Lesers.

Oder reden wir von dem walisischen Autor Cynan Jones, der hierzulande vor zwei Jahren mit dem grausamen wie fesselnden Roman Graben debütierte. In diesem Frühjahr ist Alles, was ich am Strand gefunden habe erschienen, im Übrigen wie alle bislang Genannten (mit Ausnahme von Sallis) kongenial von Peter Torberg ins Deutsche übertragen: ein Buch, das deutlich stiller als Graben daherkommt, den Leser aber nicht weniger erschüttert. Ein polnischer Einwanderer, der mit seiner Arbeit im Schlachthof kaum die Familie ernähren kann, ein mittelloser Fischer, der sich für Frau und Kind seines verstorbenen Freundes verantwortlich fühlt, ein Krimineller, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde: Sie alle drei erhoffen sich von einem Päckchen Kokain die Erlösung, und es ist von vornherein klar, dass das für mindestens einen von ihnen nicht gut enden wird.

Jones nimmt sich, wie Woodrell oder beispielsweise auch Donald Ray Pollock in seinem Erzählband Knockemstiff, der Menschen am Rande der Gesellschaft an, der Vergessenen und der Gebrochenen, all jener also, die kaum noch etwas zu verlieren haben. Die Welt, die hier geschildert wird, ist voller Härte, doch gleichzeitig spürt man die Zärtlichkeit, mit der sich die Autoren ihren Figuren annähern, eine große Empathie. Auch wenn es den Anschein hat: Die Liebeskind-Literatur ist nicht nur düster und rau, die sanften Töne finden hier ebenso Gehör. Bester Beweis dafür sind die bezaubernd-melancholischen Romane der Japanerin Yoko Ogawa, etwa Schwimmen mit Elefanten.

Wie dieses ausgesuchte und auch visuell ansprechend aufbereitete Programm zustande kommt, das hat der Kaffeehaussitzer Uwe Kalkowski kürzlich bei einem Verlagsbesuch in München in Erfahrung gebracht. Dass das Haus gerade einmal von drei Leuten, darunter der Verleger Jürgen Christian Kill, am Laufen gehalten wird, erstaunt dabei am meisten – von den freischaffenden Künstlern, die einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der Bücher leisten, einmal abgesehen. Immer wieder ist im Zusammenhang mit den kleinen Indie-Verlagen von der Leidenschaft die Rede, die ihre Macher antreibt. Und ja, es stimmt: Man meint sie in jeder Veröffentlichung zu spüren, die Leidenschaft, die Sorgfalt, die Überzeugung. Aus unserer literarischen Landschaft – und aus meiner Bibliothek – ist der Liebeskind Verlag nicht mehr wegzudenken.

China Miéville: Dieser Volkszähler. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2017, 176 Seiten, 18,00 €. / Cynan Jones: Alles, was ich am Strand gefunden habe. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2017, 240 Seiten, 20,00 €.

Ausgewählte Bücher aus dem Hause Liebeskind und was andere darüber sagen:

James Carlos Blake: Pistolero • booknerds.de
Edward Carey: Alva & Irva • Bücherwurmloch
Pete Dexter: God’s Pocket • WortGestalt
Pete Dexter: Paperboy • Analog-Lesen 
Pete Dexter: Unter Brüdern • Der Schneemann
Graham Greene: Reise ohne Landkarten Literaturen
Bruce Holbert: Einsame Tiere • crimenoir
Chloe Hooper: Die Verlobung • Zeilenkino
Christopher Isherwood: Kondor und Kühe Buzzaldrins Bücher
Frank Jacobs: Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten • Jargs Blog
Adam Johnson: Emporium • The Daily Frown
Alain Mabanckou: Morgen werde ich zwanzig • Fixpoetry
Alain Mabanckou: Zerbrochenes Glas • CulturMag
Ottessa Moshfegh: McGlue novellieren
Andreas Münzner: Stehle Lesen mit Links
Yoko Ogawa: Das Geheimnis der Eulerschen Formel • Analog-Lesen
Yoko Ogawa: Zärtliche Klagen Klappentexterin
David Peace: GB84 • crimenoir
Donald Ray Pollock: Das Handwerk des Teufels • CulturMag
Donald Ray Pollock: Die himmlische Tafel booknerds.de
Mordecai Richler: Wie Barney es sieht • Buzzaldrins Bücher
Olivier Rolin: Der Meteorologe • Muromez
Madison Smartt Bell: Die Farbe der Nacht Literaturen
Lyonel Trouillot: Straße der verlorenen Schritte • Zeilenkino
Lyonel Trouillot: Yanvalou für Charlie • Fixpoetry
Adelle Waldman: Das Liebesleben des Nathaniel P. • Herzpotenzial
Thomas Willmann: Das finstere Tal Kaffeehaussitzer
Daniel Woodrell: In Almas Augen crimenoir

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Der Beitrag ist zuerst auf SchöneSeiten erschienen.

2 Antworten auf „Eine Liebeserklärung

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