Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville

deck_vivianeSie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was sie nicht hätte tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihgrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzunehmen, aber jedesmal, wenn sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächstem nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächntis ist.

In ihrem Roman „Viviane Élisabeth Fauville“ erzählt Julia Deck von ihrer gleichnamigen Protagonistin – einer zweiundvierzigjährigen Frau, beruflich erfolgreich und gerade Mutter geworden. Doch der heile Schein trügt: Viviane leidet an psychischen Problemen, ihr Mann hat sie kurz nach der Geburt für eine andere Frau verlassen und jene Kollegin, die sie während des Mutterschaftsurlaubes vertreten hat, scheint ihr in der Firma den Rang abzulaufen. Schon seit längerer Zeit ist sie deshalb bei einem Psychoanalytiker in Behandlung, der ihr aber nicht hilft, sondern ihre Angststörungen noch mehr verstärkt. Einzig die Rezepte für Psychopharmaka lohnen die Therapiestunden.

Eines Tages aber ist der Psychoanalytiker tot, er wird von seiner Geliebten erstochen in seiner Praxis aufgefunden. Julia Deck lässt dem Leser in der Folge keine Zweifel daran kommen, dass Viviane, die labile, gejagte, haltlose Frau, seine Möderin ist. In stakkatoartigen Sequenzen begleiten wir Viviane von einem Polizeiverhör zum nächsten, wir erleben, wie schnell sie sich in Wiederspüche verstrickt und den Verdacht der Kommissare auf sich lenkt. Viviane verfolgt alle, die mit dem Psychoanalytiker zu tun hatten – seine Geliebte, seine Ehefrau, einen anderen Patienten – verstickt sie in Gespräche, gerät einem vorbestraften Patienten von einer extatischen Orgie in eine Prügelei, klopft wie gehetzt jeden Verdachtsmoment an den anderen ab, der sie am Ende entlasten könnte.

Wer hat den Psychoanalytiker erstochen? Ist es tatsächlich Viviane, wie es bereits das zweite Kapitel unmissverständlich klar macht? Julia Deck spielt so virtuos mit den Erzählperspektiven, dass man als Leser selbst immer wieder die Rollen wechselt: Mal ist der Leser selbst Viviane, dann wieder spricht ihn das Ich von Viviane an. Im Zusammenspiel mit den sich verdichtenden Hinweisen darauf, dass Viviane eine Mörderin ist – eine rastlos durch Paris getriebene Frau, denen Angstzustände sie stärker und stärker beherrschen – entsteht ein furioser Roman mit einem ungeheuren Erzähltempo. Immer schwieriger wird es sowohl für die Protagonistin als auch den Leser, zwischen Wirklichkeit und Wahnvorstellung zu unterscheiden.

Vivianes Getriebensein endet schließlich in einem Zusammenbruch. Auf offener Straße, angetrunken und ihren Ehemann verfolgend, verlässt sie alle Kraft.

Man müsste reagieren, sich wehren, aber es geschieht etwas viel Dringlicheres. Vergeblich versuchen Sie, sich zu konzentrieren, so tief wie möglich einzuatmen, die Luft gelangt nicht megr in Ihre Lunge. Sie strömt nur dumm zurück und weigert sich, eingeatmet zu werden. Sie wenden Ihre ganze Energie auf, um den Sauerstoff zu zwingen, den Weg Ihrer Luftröhre einzuschlagen, aber er weigert sich standhaft, und Sie erinnern sich nicht, je etwas Unangenehmeres erlebt zu haben.

Viviane kommt in ein Krankenhaus, zunächst über eine unbestimmte Zeit sediert von Medikamenten. Das Erzähltempo wird gebremst, die Jagd ist vorbei und von Viviane fällt langsam aller Druck ab. Nun schließlich wird dem Leser eine neue Variante des Tathergangs präsentiert, bei der Viviane nicht die Möderin ist. Julia Deck gelingt es, mit Wahrheiten und Identitäten zu spielen; in diesem Roman ist nichts gewiss und alle Sicherheit scheint mit einem Schlag in den Spiegel auflösbar. Es ist Julia Deck mit „Viviane Élisabeth Fauville“ ein Roman gelungen, der wie ein Krimi daherkommt, von einer psychischen Erkrankung handelt und diese nachvollziehbar macht und dabei eine ungeheure Sogwirkung entfaltet, die dem Leser das Gefühl vermittelt, Teil eines Komplotts zu sein.

Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville. Aus dem Französischen von Anne Weber. Klaus Wagenbach Verlag 2013,144 Seiten, 16,90 €.

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