Ruth Cerha: Bora – Eine Geschichte vom Wind

Ruth_Cerha_Bora»Ein blaues Lesewunder erleben«

Wieder ist es geschehen, und ich koste ihn aus – diesen wundervollen Moment des vollkommenen Leseglücks. Süß wie Blütenhonig, prickelnd wie Ingwerlimo, himmlisch! Das Gefühl, ein besonderes Buch entdeckt zu haben, lässt stets das Herz glühen und den Mund lächeln. »Bora – Eine Geschichte vom Wind« von Ruth Cerha heißt meine Entdeckung. Der Roman hat das Glück buchstäblich durch meine Augen wehen lassen.

Und der Zeitpunkt des Erscheinens zum Sommer ist perfekt gewählt. Es ist ein Buch für alle, die verreisen, aber auch für diejenigen, die zu Hause bleiben und sich nach der Ferne sehnen. Sobald man das Buch aufgeschlagen hat, sind der hektische Alltag und das laute Treiben der Großstadt vergessen. Erst zaghaft, dann stürmischer windet sich der kalte Fallwind Bora um meinen Hals und weht mein blaues Tuch davon. Überrascht und verlegen folge ich Bora, der neben der Erzählerin Mara eine wichtige Rolle spielt.

Mara ist Schriftstellerin und ist ganz bewusst über den Sommer auf die kroatische Insel gezogen. Sie bewohnt ein kleines Häuschen und ist mit dem Inselleben und den Bewohnern sehr vertraut. Manche kommen nur über die Sommermonate, wie der Bildhauer Harry, andere leben ganzjährig auf dem kleinen Fleck Erde, das von der Adria umgeben ist. Alles scheint wie immer und doch ist es dieses Mal anders, besonders bei der temporären Inselbewohnerin Mara.

»Es herrschte Bora, dieser kalte Fallwind. Der vorm Karstgebirge herabstürzt, die Boote über das Meer treibt wie Nussschalen, am Herd zerrt und die Menschen verrückt macht.« Bora eilt beinah täglich über die Insel, erinnert an ein gehetztes Tier und bringt so mächtig Wirbel in das sommerliche, friedliche Domizil. Mara dagegen kann Unruhe überhaupt nicht leiden. Ihr fehlt die innere Balance, zu viel ist in den vergangenen Wochen passiert. Eine innere Leere hindert sie daran, zu schreiben oder einfach mit Freude zu kochen. Erst Andrej holt sie aus ihrer Lähmung heraus, ein neuer Inselgast, den Mara eines Tages in der Menge der ankommenden Menschen am Hafen entdeckt. Ehe sie sich versieht, schleicht sich Andrej in ihren Kopf und will da nicht wieder raus. Dann steht er kurz nach der ersten Begegnung vor ihrer Tür und will mit ihr einen Fisch kochen. Überrascht und überrumpelt lehnt sie ab. Als sich später jedoch herausstellt, dass Andrej ein Freund von Freunden ist, beruhigt sie sich ein wenig und denkt weiter über diesen anziehenden Fremden nach.

Bora leistet sich derweil weitere übermütige, stürmische Tänze. Und die Autorin nimmt mich mit in das wunderbare Inselleben, das getragen wird von großer Herzlichkeit, schönen Gesprächen, feucht-fröhlichen Nächten, leckerem Essen und unvergesslichen Augenblicken in den Armen der Natur. Eine wunderbare Sinnlichkeit, die aus dem ganzen Roman strahlt, der so viel mehr als eine zauberhafte Liebesgeschichte ist. So setzt die Autorin mit Andrejs Familiengeschichte einen weiteren, bedeutenden Baustein in ihr mitreißendes Werk. Seine Eltern sind in den sechziger Jahren vor dem Tito-Regime nach Amerika geflüchtet, wo er zur Welt kam. Einmal im Jahr veranstaltet die Insel zu Ehren der Ausgewanderten den Emigrant’s Day, an dem viele Immigranten zurückkehren und alle gemeinsam feiern. Auch Andrejs Mutter und sein Bruder mit Familie sind diesmal angereist. Seine Mutter und Mara verstehen sich auf Anhieb. Ana und Mara unterhalten sich oft, wie eine hungrige Biene saugt die Protagonistin von der Mutter die Geschichten über Andrej und die Familie auf. Dadurch entsteht ein dichtes, bewegendes Panorama über das Schicksal der Menschen, die seinerzeit die Flucht ergriffen haben und in einer völlig anderen Welt zurecht kommen mussten. Andrej ist dies nie wirklich gelungen, und er tigert als Fotograf durch die Welt. Immer angetrieben, immer ruhelos. Bis er auf Mara trifft. In ihr findet er nicht nur eine anziehende Frau, sondern gleichsam eine Seelengefährtin.

Ruth Cerha erzählt dies in einer leuchtenden Sprache, die alles hat, was man sich wünscht: Rauheit, Zärtlichkeit, nachdenkliche Töne und schöne Sätze, die geschmeidig sind wie frisch poliertes Leder, strahlend wie die Sommersonne an der Adria. Im Laufe der Geschichte gibt es viele bezaubernde Momente, wie den, als Andrej und Mara einen nächtlichen Spaziergang unternehmen. Beide betreiben ein Spiel. Während Mara beschreiben soll, was sie sieht, hat Andrej die Aufgabe zu sagen, was er riecht. Sie erzählen, bis kein Wort mehr zu finden ist und sie einfach nur dasitzen, der Nacht lauschen. »Wir schwiegen. Die Stille fiel vom Himmel und hüllte uns ein. Weißt du, wonach es hier riecht?, fragte Andrej irgendwann. Sag. Nach Sternen. Es riecht nach Sternen.« Ist das nicht bezaubernd?

So atme ich immer noch den Duft der Sterne, spüre Boras Puste in meinen Haaren, das Glück in meinen Augen. Dies führt mich zu diesem Gedanken: Der Roman erscheint nicht nur zur perfekten Zeit, er ist es auch. Ein leuchtend blaues Lesewunder, so schön wie ein unvergesslicher Sommertag.

Ruth Cerha: »Bora – Eine Geschichte vom Wind«. Frankfurter Verlagsanstalt, Juli 2015, 254 Seiten, 19,90 €.

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> masuko13
> buchrevier

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