Alice Greenway: Schmale Pfade

alice_greenway_schmale_pfade»Ein Leben wie im Fluge.«

Herrgott noch mal! Jims Fluch hängt tatsächlich immer noch in meinen Ohren. Ich lächle und bin gleichzeitig wehmütig, weil er mich verlassen hat. Während ich noch in Melancholie bade, höre ich das Geräusch von Wellen, die an den Strand branden. Die Möwen kreischen, in meine Nase kriechen Gerüche von Fisch und Seesalz. Verwundert, erstaunt und beglückt zugleich schaue ich zum schön gestalteten Buch »Schmale Pfade« von Alice Greenway, in dem ich länger verweilte als zunächst gedacht. Einerseits brauchte der Roman seine Zeit. Andererseits konnte ich mich nicht von dem kauzigen Protagonisten und der vielseitigen, bewegenden Geschichte um ihn herum trennen. Doch nun ist die Zeit des Abschieds gekommen. Aber vorher möchte ich noch einmal zurückkehren mit dem Salz auf den Lippen und dem Wind in den Haaren.

Die Autorin hat sich mit ihrem Debüt »Weiße Geister« einen Namen erschrieben, wurde von der Presse und Publikum euphorisch gefeiert. In ihrem neuen Werk begeistert sie mich sofort mit ihrer poetischen Sprache und ihrem Feingefühl.

Der Romanheld ist ein gebrochener Mann, der sich im Jahr 1973 auf einer Insel vor Maine ins Sommerhaus seiner Kindheit zurückgezogen hat. Eigentlich will Jim seine Ruhe haben, mittags seinen Gin oder Scotch trinken und dazu eine Zigarette rauchen. Doch aus der Ruhe wird erstmal nichts, als Cadillac in sein Leben tritt. Sie ist die Tochter seines Freundes Tosca, die auf der Insel ihre Ferien verbringen will. Aber Jim ist nach einer Operation immer noch angeschlagen, schließlich musste ihm ein Bein amputiert werden.

Es ist eine große Freude, die beiden zu erleben, sozusagen die Sonne im Dunkel dieser Geschichte. Einerseits der knurrende Jim, der sich am liebsten verkriechen möchte. Andererseits die junge, neugierige Cadillac, die ganz schön frech alles hinterfragt. So will sie natürlich wissen, wo Jim sein Bein verloren hat. Nicht gut, gar nicht gut – Himmel Herrgott noch mal! Ach, Jim! Während der Mann noch wie ein Bär brummt, sehe ich beide vor mir und schmunzele. Cadillac erinnert mich an ein junges Vögelchen, das vor eine müde Eule fliegt, auf und ab fliegt. Die Eule spannt indes ihre Flügel, öffnet erst das eine, dann das andere Auge und ist hin- und hergerissen. Soll sie wegfliegen oder bleiben? Jim entscheidet sich fürs Bleiben und gleitet daraufhin in eine Zeit, die er bis dahin tief vergraben hat, wie der Schatz, den der ausgesetzte Pirat Ben Gunn aus der »Schatzinsel« versteckt hatte.

Mit Cadillacs Erscheinen taucht Jim in seine Vergangenheit ein. Sein Leben öffnet sich für mich wie eine Blüte, und ich sehe eine äußerst bewegende Geschichte emporsteigen. Ich erlebe ihn als Jungen, der sich immer schon für die Natur interessierte und sich in Helen verliebt – seine mittlerweile verstorbene Frau. Gleichzeitig kreist seine Arbeit als anerkannter Ornithologe durch die Räume des American Museum of Natural History. Dort soll sein Kollege Michael eine Kurzbiographie über den ehemaligen Kollegen schreiben.

Ein anderer Teil führt zum Pazifikkrieg im Jahre 1943. Wie viele andere Männer hat sich Jim freiwillig bei der Marine für den Einsatz gemeldet und damit seine Frau sowie seinen Posten beim Zoologischen Museum von Harvard ruhen lassen. Es fällt mir schwer, diese Entscheidung nachzuvollziehen. Einige Seiten später beobachte ich einen glücklichen jungen Mann, der in der Südsee mit leuchtenden Augen exotische Vögel ausfindig macht und sie präpariert. Genau dort trifft er Tosca. Wobei »treffen« das falsche Wort ist. Nach der ersten Nacht auf der Insel Layla überrascht ihn der Sechszehnjährige, schleicht sich wie eine Wildkatze von hinten heran und schenkt Jim einen Fisch. Den braten sie zusammen und sind fortan unzertrennlich.

Fasziniert und neugierig blättere ich mich durch die Seiten. Die Welt der Vogelkunde ist eine interessante, die des Pazifikkriegs hingegen sehr beklemmend und Jims Gegenwart ein Aufheulen und Schmunzeln. Genau dieser Mix macht diesen Roman zu einem unvergesslich schönen Leseerlebnis.

Die poetische und sinnliche Sprache berühren den literarischen Gaumen auf allerfeinste Weise, wie auch Defoe, Hemingway und Stevenson, die in dem Roman kleine Nebenrollen besetzen. Jim arbeitet an einem Text über »Die Schatzinsel«. Nachdem er den Klassiker aus seiner Kindheit wieder geöffnet hatte, kam ihm die Idee, eine Naturgeschichte der Schatzinsel zu schreiben.

So bin ich am Ende der Lektüre lange still, höre die Wellen an den Strand rauschen und lausche dem Echo des Buches. »Schmale Pfade« hat all das Wunderbare, was es zu einer besonderen Lektüre macht. Ich bin mir sicher, beim nächsten »Herrgott noch mal!» stehe ich wieder auf der kleinen Insel vor Maine und blicke zum fluchenden, Gin trinkenden Jim, der auf die Bucht schaut.

Alice Greenway: Schmale Pfade. Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Modick. mare, Februar 2016, 368 Seiten, 22,- €.

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