Yoko Ogawa: Zärtliche Klagen.

Nur der Moment zählt. Der ruhige.

Ich hatte kürzlich Yoko Ogawa zu Gast, die mir ihre »Zärtliche Klagen« mitgebracht hat, die kürzlich beim Liebeskind Verlag erschienen sind. Wir sitzen uns gegenüber, schweigen und lauschen den zauberhaften Klängen eines Cembalos. Spielt Kaoru? Oder doch Nitta? Yoko Ogawa schweigt und tippt aufs Buch. Ich schließe lächelnd die Augen und kehre zurück in meine literarische Kraftoase, um dort wieder auf Kaoru und Nitta zu treffen.

»Zärtliche Klagen« hat etwas von einem starken Ast, an dem ich mich aus dem Alltag herausziehen kann. Mitten hinein in eine ruhige und naturschöne Welt, in der die Zeit eine neue Dimension bekommt. Yoko Ogawa hat ihren Roman, der erstmalig 1996 auf Japanisch erschienen ist, mit weniger mystischer Magie, aber durchaus mit einer anderen Note versehen: der Magie des Seins und des Durchatmens. Die braucht die Ich-Erzählerin Ruriko auch dringend, da sie ihren gewalttätigen Mann kurzerhand verlassen hat und ins alte Landhaus der Familie in die Berge geflohen ist. Seit zwei Jahren hat der Mann eine Geliebte. Nun kann die Kalligrafin einfach nicht mehr. Die junge Frau ist an einem Punkt angelangt, an dem sie instinktiv weiß, dass es so nicht weitergehen kann.

Voller Herzlichkeit wird sie von einer freundlichen, dicken Wirtin vom nahegelegenen Gasthaus empfangen. Die Wiedersehensfreude nach zehn Jahren ist groß. Die Wirtin versorgt Ruriko mit ersten Lebensmitteln und schenkt ihr ein wohliges Gefühl der Vertrautheit, das die Protagonistin mit der Natur verbindet: »Wolken zogen über den Himmel. Während wir schweigend dasaßen, konnten wir die verschiedensten Geräusche wahrnehmen: das Rascheln von Blättern, Vogelgezwitscher, und ab und zu ein säuselnder Windhauch. Vielleicht lag es am Verschmelzen all dieser Töne, dass ich trotzdem eine tiefe Stille empfand.«

Als eines Abends ein Gewitter über den Landstrich zieht, fällt der Strom aus. Ruriko sitzt gerade in der Badewanne, als sie von draußen eine Stimme vernimmt. Es ist die junge Kaoru, die ein paar Häuser weiter wohnt und Ruriko Kerzen und Streichhölzer vorbeibringt. Am nächsten Tag strahlt die Sonne wieder und Ruriko macht sich mit frisch gebackenen Keksen auf den Weg zu Kaoru, wo sie auch auf Nitta trifft. Bald stellt sich heraus, dass Nitta früher Pianist war, jetzt Cembalos baut und Kaoru bei ihm in die Lehre gegangen ist. Ruriko fühlt sich zum wortkargen und in sich ruhenden Nitta hingezogen, der ihre Gefühle bald erwidert. Doch die körperliche Nähe hat nicht die gleiche Kraft wie die, die Kaoru und Nitta verbindet. Ruriko ist enttäuscht: »Die beiden waren einander tiefer verbunden als in körperlicher Vereinigung, die zwischen Nitta und mir stattgefunden hatte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass sie sich gegenseitig mit einer Wärme besänftigen, die nach außen hin nicht sichtbar war.«

Genau diese Verbindung ist das mystische Element, in dem sich die typische ogawa’sche Seite bemerkbar macht. Der Flirt zwischen dem abgeklärten Gewöhnlichen, der funktionierenden Außenwelt, und den übersinnlichen, fantasievollen Dingen zeigt sich auch in diesem Buch, wenngleich bisweilen ein wenig zurückhaltender als in manch anderem Werk der Autorin. Aber ich genieße durchaus den ruhigen, fast schwebenden Zustand, der dieses Werk auszeichnet. Und das kann ebenfalls magisch sein.

Um die Protagonisten herum zeigt sich der schützende Mantel der Natur: Der klare blaue Himmel, Regen, Wind, singende Vögel, raschelnde Bäume und klare Luft, die bis zu mir hinüberströmt. »Zärtliche Klagen« erdet mich vom ersten Moment an und ich lasse mich durch die ruhigen Seiten wie in einer Sänfte tragen. Einzig der aufbrausende Wind der Gedanken und die Schicksalsschläge wirbeln den Seelenfrieden durcheinander. Jedoch nur wenige Atemzüge lang, bis ich wieder die Stille in meinem Geist spüre.

So behutsam und sanft wie Rurikos Pinselstriche hat Yoko Ogawa eine anmutige Geschichte geschrieben, die vom Suchen und Finden erzählt. Wenn ein altes Leben abgestreift und ein neues gefunden werden möchte. So kann das Buch nicht nur eine Kraftoase, sondern gleichsam eine rettende Hand für interessierte Leser sein. Tiefsinnig, wohlig, tröstlich und bezaubernd liest sich das Werk, aus dem noch lange die sanften Klänge des Cembalos klingen. Und ganz egal, wer sie spielt. Was zählt ist der Moment, nicht wahr, liebe Yoko Ogawa

Yoko Ogawa: Zärtliche Klagen. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Liebeskind, Februar 2017, 270 Seiten, 20,- €.

Weitere Stimmen über das Buch findet ihr bei:

Ein Kommentar zu „Yoko Ogawa: Zärtliche Klagen.

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  1. Hey!
    Was für eine tolle Rezension! Ich freue mich gerade so, dass ich hier auf die Autorin Yoko Ogawa gestoßen bin! Die Autorin kannte ich bisher noch nicht, aber „Zärtliche Klagen“ hört sich klasse an. Ich bin gerade dabei die japanische Literatur für mich zu entdecken:) Ich habe Natsume Sosekis „Der Bergmann“ gelesen und war begeistert und möchte als nächstes „Kokoro“ lesen. Kennst du Soseki?
    Viele Grüße
    Svenja https://pantaubooks.wordpress.com/

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