Eine simple Geschichte mit Wucht (Marc, @lesen_macht_gluecklich)

CW: Sexualisierte Gewalt, Kindesmissbrauch in der Kirche

Wer den Autor Steven Uhly und seine Geschichten kennt, der wird wissen, worauf er oder sie sich einlässt. Es sind keine einfachen Ereignisse, die er uns da abverlangt. Bei dem Vorgängerbuch zu „Die Summe des Ganzen“ zum Beispiel, der den Titel „Finsternis“ trägt, hat er uns ganz tief hineingezogen in eine Welt, bestehend aus Dominanz, Unterwerfung, Verletzung und dem Ausleben von extremen Fetischen. Das alles gipfelte in eine Tat, die beim Lesen des Buches zu Beginn nicht ganz klar ist und sich erst nach und nach lüftet. So ist es im vorliegenden Buch erneut, allerdings mit einem Thema, dass sicher Trigger auslösen wird und trotzdem angesprochen gehört. Es geht in diesem Roman um die Misshandlung von Minderjährigen im Rahmen der Kirche, das Verschweigen dieser Taten und das Verhindern staatlicher Verurteilungen durch den Klerus. Ein ungeheuerliches Vorgehen und mehr als aktuell, da es immer wieder Vorfälle gibt, die in diese Richtung gehen. Die Empörung dabei ist jedes Mal riesengroß, doch die Täter und die, die sie schützen, werden meist durch die Gewaltentrennung zwischen Kirche und Staat geschützt. Genau da setzt dieser Roman an, der nichts für schwache Nerven ist und einem beim Lesen eine ordentliche Portion Courage abverlangt.

Nur eine Andeutung

Diese Geschichte spielt sich vor allem zwischen zwei Menschen ab. Da ist der Padre (Pastor) in einem Vorort irgendwo in Madrid. Eine kleine, kirchliche Gemeinde, nichts Aufregendes. Es ist für den Padre eine Arbeit, die von Struktur und gleichbleibenden Abläufen geprägt ist und an die er sich strikt hält. Da kommt ihm der Sünder, der kurz vor Ende der Zeit, in der die Beichte vom Padre abgenommen wird, im Beichtstuhl auftaucht, sehr unrecht. Denn der Padre hat noch andere Verpflichtungen, denen er nachkommen muss, unter anderem den Knabenchor anleiten. Doch der Padre will von dem Fremden wissen, was er zu sagen hat, zumal er nicht zur Gemeinde gehört. Und so beginnt der Fremde seine Beichte abzulegen. Eine Beichte über einen ungeheuerlichen Vorgang, eine Sünde, die nicht zu verzeihen ist. Nach und nach, Beichte für Beichte, zieht uns der Beichtende in einen Strudel aus Andeutungen und schlimmsten Ahnungen. Doch werden die sich bewahrheiten? Und was hat der Fremde eigentlich im Sinn, in einer völlig fremden Gemeinde diese Beichte abzulegen?

An der Grenze der Ertragbarkeit

Steven Uhly hat für „Die Summe des Ganzen“ ein Thema gewählt, dass in den letzten Jahren immer wieder und verstärkt in den Fokus gerückt ist. Sei es in der Kirche, aber auch in vielen anderen Gesellschaftsschichten taucht diese Ungeheuerlichkeit auf. Es geht um die sexuelle Misshandlung von Kindern und der Umgang damit. Ein heikles Thema, das der Autor da angegangen ist und es in eine Geschichte gepackt hat, die das erst nach und nach zum Thema macht. In diesem Buch werden vor allem zwei Charaktere in den Mittelpunkt gerückt und stehen fast über das gesamte Buch allein im Fokus. Es kommen im weiteren Verlauf zwar noch zwei Nebenfiguren hinzu, die aber weit weniger Einfluss auf die Haupthandlung haben, vielmehr entweder Stichwortgeber sind oder die finalen Züge des Plots offenbaren sollen. Daher müssen der Padre und der Beichtende sehr starke Motive aufweisen und auch die ganze Geschichte auf ihren Schultern tragen. Das dies gelingt ist der geschickten Staffelung der Beichte zu verdanken, die sich über fast das gesamte Buch zieht und die einen immer tiefer in die Gedankengänge desjenigen hinabzieht, der die ganze Zeit im Beichtstuhl sitzt. Daraus ergeben sich ganz starke Dialoge zwischen Beichtendem und Padre, die nach und nach die Grenzen verschwimmen lassen zwischen der Sünde und was die Kirche davon abzunehmen bereit ist. Und es wird deutlich, dass das ziemlich viel ist. Dabei wird einem immer unwohler bei der Lektüre. Denn umso mehr Details ans Tageslicht gerückt werden, umso mehr wird auch deutlich, worauf der Beichtende hinaus will, beziehungsweise, was er beichten will. Die Wut steigt in einem als Leser*in an, denn diese ungeheuerliche Tat, die da angedeutet wird, ist eine, die der Polizei gemeldet gehört und nicht auf dem Beichtstuhl verbleiben sollte.

Steven Uhly verpackt all das in intensive Dialoge voller Wucht und Wut, die beim Lesen geschürt wird. All die (An)-Spannung erzeugt er größtenteils aus den Gesprächen, denn mehr Handlung ist gar nicht vorhanden. Und er generiert die Frage der Schuld und wie sie zu begleichen ist. Durch die Beichte? Durch staatliche Institutionen? Was wird dieser Angelegenheit gerecht? Und wie viel darf die Kirche eigentlich verschweigen? Letztendlich kann an dieser Stelle angedeutet werden, dass nichts so ist, wie es eingangs den Anschein hat und dieser Kniff lässt einen am Ende schockiert zurück. Denn der Autor zeigt die ungeheuerliche Tat eines Menschen, der sich nicht mehr unter Kontrolle hat und damit unschuldige Seelen ins Unglück zieht. Ob derjenige, der Kinder in seine sexuellen Fantasien aktiv einbezieht, am Ende seine gerechte Strafe erfahren wird, bleibt offen und somit wird auch das Urteil dem Leser überlassen. Zurück bleibt eine Lektüre, die einen wütend macht, die einen schockiert und die aufzeigt, dass noch einiges passieren muss innerhalb der Kirche und auch bei den staatlichen Institutionen, um den oder die Täter solcher Taten zur Rechenschaft zu ziehen.
Schade ist, dass dieser Roman in diesem Herbst leider etwas untergegangen ist und kaum Aufmerksamkeit bekommen hat. Dieses Thema und der Umgang damit sollte viel offensiver und öffentlicher ausgetragen werden. Dieser Roman könnte ein Beitrag dazu sein.

Steven Uhly
Die Summe des Ganze
n
Secession Verlag
Roman
160 Seiten
22,00 €

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