Lot Vekemans: Ein Brautkleid aus Warschau

lot_vekemans_ein_brautkleid_aus_warschauIch mag Geschichten mit offenem Ende. Auch die niederländische Dramaturgin und Autorin Lot Vekemans mag es, wenn der Leser am Ende selbst entscheiden kann, wie es mit den Figuren der Geschichte weiter geht.  Und so bleiben viele Fragen offen, wenn in ihrem Roman „Ein Brautkleid aus Warschau“ der letzte Satz gesagt ist. Ihre holländischen Leser seien darüber erzürnt gewesen, sagt Lot Vekemans mit einem charmanten Lächeln. Sie wollten wissen, was mit dem Jungen Stan passieren würde. Sie fragten, für welchen der drei Männer Marlena sich entscheiden würde.

Es ist Sonntagabend (21.02.). Lot Vekemans sitzt auf der Lese-Bühne der Kammerspiele im Deutschen Theater und erzählt, wie es zu dem Roman gekommen ist, der ursprünglich als Theaterstück geplant war. Moderiert wird die Veranstaltung von Thorsten Ahrendt vom Wallstein Verlag . Felix Goeser und Kathleen Morgeneyer lesen einzelne Passagen. Der Einstieg in die Geschichte ist wild und außergewöhnlich. In der dramaturgischen Version, so erzählt Vekemans, sollten ein paar verrückte Holländer mit einem Bus nach Polen fahren. Dort würde nach einer Panne alles anders verlaufen, als ursprünglich geplant … Schnell aber spürte die Autorin während des Schreibens, dass diese Idee für die Bühne nicht funktionierte. Die Hauptfigur Marlena nahm bereits so viel Raum in ihrem Kopf ein, dass sie beschloss, deren Geschichte zu erzählen. Erste Leseproben begeisterten auch ihre Freunde. Ein spannendes Projekt. 

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© Wallstein Verlag

Was also ursprünglich als Bus mit ein paar Holländern geplant war, ist jetzt ein 15 Jahre alter blassroter Fiat im Polen der 90er Jahre. Fünf Leute quetschen sich in dieses winzige Auto, welches diversen Schlaglöchern, Kühen und alten Bauern auf der Landstraße ausweichen muss. In Warschau hatten sie dem Papst gewunken, auf der Fahrt zurück in ihr polnisches Dorf werden sie kurz Stop machen, um im Hotel Europa die besten Hamburger zu essen, die es weit und breit gibt. Und dort, im Hotelrestaurant, begegnen sich auf schicksalhafte Weise der Amerikaner Natan und das Mädchen Marlena. Sie treffen sich bald darauf wieder, reden stundenlang und dann … der erste Kuss. Man weiß es sofort, wenn es wahre Liebe ist. Sie steht sicher und fest wie ein Felsen im in der Mitte eines Flusses und weicht selbst dem wildesten Toben nicht aus. Es ist, als sei man größer als man selbst. als wohne man im Herzen statt das Herz im Körper. Ja, genauso fühlte es sich mit Natan an (S. 21).

Doch Natan muss zurück in die USA und Marlena bleibt allein. Sie erwartet ein Kind, von dem Natan nichts weiß. Für die 26-Jährige ein Drama. Denn bisher war es ihr zwar gelungen, ihre Beziehung zu einem amerikanischen Juden vor ihrer katholischen Mutter zu verheimlichen, mit der Schwangerschaft wäre das schwierig. Man muss dazu wissen, dass Marlena vor dem allwissenden Auge ihrer Mutter mehr Angst hatte als vor dem allwissenden Auge Gottes! Eine Zwangsheirat mit einem polnischen Bauern käme nicht in Frage. Marlena trifft eine sehr mutige Entscheidung. Sie kontaktiert ein Reisebüro zur Vermittlung polnischer Bräute und beschließt, auszuwandern. Aber nicht nach Amerika, wie ursprünglich gedacht. Die Geschichte beschleunigt sich, alles geht plötzlich furchtbar schnell und nach einigen kurzen Entscheidungen ist Marlena die Ehefrau von Andries – einem verwitweten Bauern in Niederlande.

Andries war ein schweigsamer Mann … ich konnte dankbar sein, dass ich bleiben durfte, als er herausfand, dass ich schwanger war. Er wusste, dass es nicht von ihm war. Wir hatten schließlich kein einziges Mal das Bett geteilt … und der einzige Kuss, den ich von ihm bekam, war bei der Hochzeit auf dem Standesamt (S. 50). Auch wenn dieser schweigsame Mann weder attraktiv noch sympathisch zu sein scheint, Marlena mag ihr neues Leben. Sie mag die Wiesen, die Kühe und den Hofhund Boele. Und dann wird Stan geboren und es geschieht ein kleines Wunder. Andries wird nicht nur rechtlicher Vater von Stan, sondern auch Vater im Herzen. Beide sind ein perfektes Vater-Sohn-Team. Kleine Momente stillen Glücks teile ich als Leser mit den Romanfiguren und denke, dass nicht immer der biologische Vater auch der richtige Vater für den Alltag sein muss. Ich fühle mich wohl in dieser kleinen und scheinbar heilen Marlena-Stan-Andries-Welt, als die Geschichte eine heftig Wendung nimmt. Marlena besucht nach vielen Jahren wieder ihre Heimat, nimmt Stan mit … und bleibt.

Polen war mir wieder unter die Haut gekrochen. Ich konnte mich nicht länger vor dem ungeheuren Heimweh verstecken, das ich jahrelang hatte begraben wollen (S. 82). Das Problem – Stan hört von diesem Tag an auf, zu reden. Er bleibt komplett stumm, will zurück zu seinem Daddy nach Holland. Sein Schweigen ist zerstörerisch. Eine kindliche Waffe des Protests gegen die mütterliche Entscheidung. Man möchte Stan an die Hand nehmen und mit ihm nach Holland reisen zu seinem Daddy und zu Boele. Wie sonst könnte dieses Schweigen gebrochen werden?

An diesem Punkt der Geschichte macht die Autorin etwas sehr Geschicktes, indem sie im nun folgenden Teil Andries erzählen lässt. Im dritten Teil des Romans dann kommt Szymon zur Sprache, entfernter Verwandter von Natan und momentaner Besitzer von Hotel Europa. Zurück bis zu jener Begegnung von Marlena und Natan vor neun Jahren höre ich von Szymon wieder eine ganz andere Story. Ganz behutsam öffnet Vekemans Türchen um Türchen und zeigt – es gibt viele Wahrheiten. Es kommt immer auf den Blickwinkel an. Beziehungen sind kompliziert. Die Liebe an sich ist kompliziert. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Kind. Der kleine Junge Stan, der nicht mehr spricht. Wird sein Schweigen die Mauer brechen? Und werden die Erwachsenen in seinem Umfeld die richtigen Entscheidungen treffen? Geht Marlena nach Holland zurück? Bleibt sie bei Szymon in Polen?

Lot Vekemans beantwortet nicht alle dieser Fragen. Und dennoch bleibe ich weder ratlos noch „erzürnt“ zurück. Ich sitze hier mit dem Gefühl, eingetaucht zu sein in eine ganz großartig erzählte Geschichte, die eigentlich ganz alltäglich ist. Und in der ich mich sehr wohl gefühlt habe.

Eine weitere Stimme zum Buch findet Ihr bei Hauke von leseschatz

Lot Vekemans. Ein Brautkleid aus Warschau. Aus dem Niederländischen von Eva Pieper und Alexandra Schmiedebach. Wallstein Verlag. Göttingen 2016. 253 Seiten. 19,90 €

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